24. März 2019

Die russische Krake

Im Fernen Osten ent­steht ge­gen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Macht mit he­ge­mo­nia­len Ansprüchen: Japan ge­winnt mit sei­ner Flotte den Krieg um das Nachbarland Korea und be­siegt da­mit die gros­se Weltmacht China. Ab 1895 wird die Unabhängigkeit Koreas von China – vor­mals ein Satellitenstaat des Reichs der Mitte – im Friedensvertrag von Shimonoseki be­sie­gelt. Japan er­hält als Kriegsgewinn Taiwan und die Pescadores-Inseln zu­ge­spro­chen. Abgesehen hat es Japan je­doch ins­be­son­de­re auf den stra­te­gisch wich­ti­gen Flottenstützpunkt Port Arthur, wel­cher auf Druck der eu­ro­päi­schen Grossmächte Russland zu­ge­spro­chen wird. Ein neun­zehn­jäh­ri­ger Student aus Tokyo be­ob­ach­tet das po­li­ti­sche Geschehen und pro­phe­zeit mit ei­ner ein­drück­li­chen Landkarte das Kommende: 1905 ge­winnt Japan die Schlacht um Port Arthur ge­gen Russland!

Objekt kau­fen:

Obwohl Japan die chi­ne­si­sche Hafenstadt Port Arthur im Gelben Meer 1894 an Japan ver­liert, drän­gen die Grossmächte Russland, das Deutsche Reich und Frankreich um eine Rückgabe der Stadt. Zugesprochen wird der Hafen schliess­lich Russland, wel­ches sein Einflussgebiet im Osten von China zu ver­grös­sern sucht. Die stra­te­gisch gut ge­le­ge­ne Hafenstadt soll­te da­bei hel­fen, die Rückständigkeit Russlands ge­gen­über eu­ro­päi­schen Grossmächten zu ver­rin­gern. In der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 1904 über­fällt Japan ohne Kriegserklärung die in Port Arthur vor Anker lie­gen­de rus­si­sche Pazifikflotte und am 27. Mai 1905 ver­liert die rus­si­sche Flotte die Seeschlacht von Tsushima in der ko­rea­ni­schen Meerenge ge­gen die ja­pa­ni­sche Armada. Damit ist die Niederlage des Zarenreichs im Russisch-Japanischen Krieg be­sie­gelt. Sie be­ein­fluss­te die Auflösung der za­ris­ti­schen Herrschaft und da­mit den Ausbruch der Oktoberrevolution von 1917.

Kurz nach dem Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges (1904–1905) ent­wirft der ja­pa­ni­sche Student Kisaburō Ohara an der Keio University, Tokyo, mit erst 19 Jahren eine aus­ser­ge­wöhn­li­che, hu­mo­ris­ti­sche Landkarte. Die anti-rus­si­sche Karte zeigt ei­nen sich aus Russland aus­brei­ten­den Oktopus und ba­siert auf ei­ner Landkarte des Engländers Frederick Rose (bei Ohara be­zeich­net als «a cer­tain pro­mi­nant Englishman»), wel­che 1877 er­schie­nen ist. Im Gegensatz zur Karte von Rose, wel­che Russland eben­falls als Krake dar­stellt, steht bei Ohara nicht Europa, son­dern ins­be­son­de­re der asia­ti­sche Kontinent im Fokus. Eine be­droh­li­che Krake schlingt sei­ne Tentakel um Finnland, Polen, die Krim oder den Balkan (alle als mensch­li­che Schädel dar­ge­stellt). Weitere Fangarme hal­ten die Türkei an Taille und Knöchel so­wie Persien an der Kehle fest und den Tibet zer­ren sie schliess­lich aus den Armen Chinas. Der Arm, der sich durch Sibirien und Manturien er­streckt, re­prä­sen­tiert die Transsibirische- und die Süd-Manchuria-Eisenbahn mit ih­rem Endpunkt im Hafen von Port Arthur (Lüshun). Im rus­sisch-ja­pa­ni­sche Krieg wird im Wesentlichen um die­sen eis­frei­en Hafen ge­strit­ten. Die Karte ist auf März 1904 da­tiert, ei­nem Schicksalsmonat, in wel­chem Japan über­ra­schen die Schlacht um die Hafenstadt ge­winnt. Ohne von die­sem Sieg zu wis­sen, schreibt Ohara kurz vor der end­gül­ti­gen Siegesschlacht: «The Japanese fleet has al­rea­dy prac­ti­cal­ly an­ni­hi­l­ated Russia’s na­val powers in the Orient. The Japanese army is about to win a si­gnal vic­to­ry over Russia in Corea and Manchuria». Ziel der sehr sel­te­nen Karte war es wohl, «Grossbritannien zu be­ein­flus­sen, sei­ne Neutralität auf­recht­zu­er­hal­ten – d.h. nicht mit sei­ner mäch­ti­gen Flotte in den Krieg ein­zu­grei­fen. Der ein­deu­tigs­te Beweis für das Ziel des Kartenherstellers ist die Tatsache, dass der Titel, die Ländernamen und der aus­führ­li­che Textblock alle auf Englisch er­schei­nen.», so der be­deu­ten­de Kartensammler J.P. Mode.

Der ap­pel­la­ti­ve Text lau­tet: «’Black Octopus’ is a name new­ly gi­ven to Russia by a cer­tain pro­mi­nent Englishman. For the black oc­to­pus is so ava­ri­cious, that he stret­ches out his eight arms in all di­rec­tions, and sei­zes up every thing that co­mes wi­t­hin his re­ach. But as it so­me­ti­mes hap­pens he gets woun­ded se­rious­ly even by a small fish, owing to his too much co­ve­tous­ness. Indeed, a Japanese pro­verb says: ‘Great ava­ri­ce is like un­sel­fi­sh­ness.’ We Japanese need not to say much on the cau­se of the pre­sent war. Suffice it to say that the fur­ther exis­tence of the Black Octopus will de­pend en­t­i­re­ly upon how he co­mes out of this war. The Japanese fleet has al­rea­dy prac­ti­cal­ly an­ni­hi­l­ated Russia’s na­val powers in the Orient. The Japanese army is about to win a si­gnal vic­to­ry over Russia in Corea and Manchuria. And when … St. Petersburg? Wait & see! The ugly Black Octopus! Hurrah! Hurrah! for Japan. – Kisaburo Ohara, March 1904.»

Seit dem 19. Jahrhundert wird der Oktopus oft­mals als kar­to­gra­fi­sches Motiv ver­wen­det. Erstmals ist das Tier be­legt in der Landkarte  «Serio-Comic-Warmap for the year 1877» von Frederick Rose, wel­che den rus­sisch-tür­ki­schen Krieg fo­kus­siert. Der eng­li­sche Kunsthistoriker Peter Barber schreibt zu dem Motiv: «Die Verbreitung des Oktopus-Motivs in der Kartografie deu­tet dar­auf hin, dass die Krake in­ne­re Ängste der Manschen an­spricht und eine me­ta­pho­risch gut les­ba­re, furcht­erre­gen­de und ge­heim­nis­vol­le Kreatur aus den Tiefen (den dunk­len Orten der Welt) her­auf­be­schwört, die über­zeu­gend ein Gefühl gren­zen­lo­sen Übels her­vor­ru­fen kann. Dazu muss das als Oktopus ver­kör­per­te Land nicht an­nä­hernd die Form des Tieres auf­wei­sen!»

Alle Objekte, die zu die­ser Geschichte pas­sen: