Die russische Krake
Im Fernen Osten entsteht gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Macht mit hegemonialen Ansprüchen: Japan gewinnt mit seiner Flotte den Krieg um das Nachbarland Korea und besiegt damit die grosse Weltmacht China. Ab 1895 wird die Unabhängigkeit Koreas von China – vormals ein Satellitenstaat des Reichs der Mitte – im Friedensvertrag von Shimonoseki besiegelt. Japan erhält als Kriegsgewinn Taiwan und die Pescadores-Inseln zugesprochen. Abgesehen hat es Japan jedoch insbesondere auf den strategisch wichtigen Flottenstützpunkt Port Arthur, welcher auf Druck der europäischen Grossmächte Russland zugesprochen wird. Ein neunzehnjähriger Student aus Tokyo beobachtet das politische Geschehen und prophezeit mit einer eindrücklichen Landkarte das Kommende: 1905 gewinnt Japan die Schlacht um Port Arthur gegen Russland!
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Obwohl Japan die chinesische Hafenstadt Port Arthur im Gelben Meer 1894 an Japan verliert, drängen die Grossmächte Russland, das Deutsche Reich und Frankreich um eine Rückgabe der Stadt. Zugesprochen wird der Hafen schliesslich Russland, welches sein Einflussgebiet im Osten von China zu vergrössern sucht. Die strategisch gut gelegene Hafenstadt sollte dabei helfen, die Rückständigkeit Russlands gegenüber europäischen Grossmächten zu verringern. In der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 1904 überfällt Japan ohne Kriegserklärung die in Port Arthur vor Anker liegende russische Pazifikflotte und am 27. Mai 1905 verliert die russische Flotte die Seeschlacht von Tsushima in der koreanischen Meerenge gegen die japanische Armada. Damit ist die Niederlage des Zarenreichs im Russisch-Japanischen Krieg besiegelt. Sie beeinflusste die Auflösung der zaristischen Herrschaft und damit den Ausbruch der Oktoberrevolution von 1917.
Kurz nach dem Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges (1904–1905) entwirft der japanische Student Kisaburō Ohara an der Keio University, Tokyo, mit erst 19 Jahren eine aussergewöhnliche, humoristische Landkarte. Die anti-russische Karte zeigt einen sich aus Russland ausbreitenden Oktopus und basiert auf einer Landkarte des Engländers Frederick Rose (bei Ohara bezeichnet als «a certain prominant Englishman»), welche 1877 erschienen ist. Im Gegensatz zur Karte von Rose, welche Russland ebenfalls als Krake darstellt, steht bei Ohara nicht Europa, sondern insbesondere der asiatische Kontinent im Fokus. Eine bedrohliche Krake schlingt seine Tentakel um Finnland, Polen, die Krim oder den Balkan (alle als menschliche Schädel dargestellt). Weitere Fangarme halten die Türkei an Taille und Knöchel sowie Persien an der Kehle fest und den Tibet zerren sie schliesslich aus den Armen Chinas. Der Arm, der sich durch Sibirien und Manturien erstreckt, repräsentiert die Transsibirische- und die Süd-Manchuria-Eisenbahn mit ihrem Endpunkt im Hafen von Port Arthur (Lüshun). Im russisch-japanische Krieg wird im Wesentlichen um diesen eisfreien Hafen gestritten. Die Karte ist auf März 1904 datiert, einem Schicksalsmonat, in welchem Japan überraschen die Schlacht um die Hafenstadt gewinnt. Ohne von diesem Sieg zu wissen, schreibt Ohara kurz vor der endgültigen Siegesschlacht: «The Japanese fleet has already practically annihilated Russia’s naval powers in the Orient. The Japanese army is about to win a signal victory over Russia in Corea and Manchuria». Ziel der sehr seltenen Karte war es wohl, «Grossbritannien zu beeinflussen, seine Neutralität aufrechtzuerhalten – d.h. nicht mit seiner mächtigen Flotte in den Krieg einzugreifen. Der eindeutigste Beweis für das Ziel des Kartenherstellers ist die Tatsache, dass der Titel, die Ländernamen und der ausführliche Textblock alle auf Englisch erscheinen.», so der bedeutende Kartensammler J.P. Mode.
Seit dem 19. Jahrhundert wird der Oktopus oftmals als kartografisches Motiv verwendet. Erstmals ist das Tier belegt in der Landkarte «Serio-Comic-Warmap for the year 1877» von Frederick Rose, welche den russisch-türkischen Krieg fokussiert. Der englische Kunsthistoriker Peter Barber schreibt zu dem Motiv: «Die Verbreitung des Oktopus-Motivs in der Kartografie deutet darauf hin, dass die Krake innere Ängste der Manschen anspricht und eine metaphorisch gut lesbare, furchterregende und geheimnisvolle Kreatur aus den Tiefen (den dunklen Orten der Welt) heraufbeschwört, die überzeugend ein Gefühl grenzenlosen Übels hervorrufen kann. Dazu muss das als Oktopus verkörperte Land nicht annähernd die Form des Tieres aufweisen!»
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