2. Januar 2019

Ferdinand Hodler trifft Muse: Giulia als spätes Schlüsselwerk von Hodler

Im letz­ten Jahr jähr­te sich Ferdinand Hodlers Todestag zum 100. Mal. Mehrere Museen in der Schweiz und im Ausland ha­ben dem Jahrhundertkünstler gros­se Ausstellungen ge­wid­met und fo­kus­sier­ten da­bei ins­be­son­de­re die Auseinandersetzung des Künstlers mit der Natur. Im Zentrum der Ausstellungen stan­den Gemälde Hodlers, wel­che vom Parallelismus ge­prägt sind – die ma­le­ri­sche Anwendung des Eindruckes vom Künstler, die Natur sei von Symmetrien ge­prägt. Diese Werke wei­sen streng sym­me­trisch an­ge­ord­ne­te Bildinhalte auf – zum Beispiel sich wie­der­ho­len­de Baumstämme in ei­ner Allee oder sym­bol­haft an­ge­ord­ne­te Oppositionen wie Tag und Nacht. Obwohl Hodler mit dem Konzept sei­nen ei­ge­nen Stil de­fi­niert und die­sen öf­fent­lich pro­pa­giert, sind ins­be­son­de­re im Spätwerk ei­ni­ge Hauptwerke ent­stan­den, wel­che die «Weltformel» des Künstlers bre­chen.

Die vor­lie­gen­de, gross­for­ma­ti­ge Tuschzeichnung ge­hört zu den schöns­ten Beispielen «frei­er» Arbeiten aus dem Spätwerk von Ferdinand Hodler. Der Künstler zeigt die ita­lie­ni­sche Tänzerin Giulia Leonardi (ge­bo­re­ne Gallo, 1878–1942) mit fron­ta­lem Oberkörper, die Schultern ent­blösst, den Kopf ab­ge­dreht. Die wal­len­de Haarpracht, re­du­ziert auf ei­ni­ge we­ni­ge ge­konnt ge­setz­te Pinselstriche, wird zum ei­gent­li­chen Blickfang des Bildes. Alle der stren­gen Symmetrie ge­wid­me­ten Konzepte schei­nen auf­zu­bre­chen: Der Künstler ent­wi­ckelt durch die ge­gen­läu­fi­gen Drehung von Brust und Kopfwendung, die fal­len­den Schultern und nicht zu­letzt durch die Gestaltung des Hintergrundes eine über das Bild hin­aus­wei­chen­de Dynamik. Ob die­ses freie Komponieren wohl am Modell liegt? Überliefert ist, dass die Abgebildete re­gel­mäs­sig in ei­nem Genfer Kaffeehaus auf­tritt, wo ihr Hodler 1910 zum ers­ten Mal be­geg­net. Der Künstler en­ga­giert die Italienerin – ge­fan­gen von ih­rer Schönheit und dem ita­lie­ni­schen Temperament – so­gleich als Modell. In den fol­gen­den drei Jahren be­geg­net man ihr so­wohl in ganz­fi­gu­ri­gen Kompositionen, dar­un­ter «Entzücktes Weib» und in der nach links schrei­ten­den Figur der «La Romanichelle», als auch in ei­ner Reihe von Bildnissen. Der aus­drucks­vol­le Gestus der vor die Brust ge­führ­ten Hände macht die star­ke Emotion die­ses Entzückten Weibs oder – wie es der alte fran­zö­si­sche Titel noch deut­li­cher for­mu­liert – die­ser «Femme en Extase» glaub­haft. Bildtitel von Frauendarstellungen wie «Ergriffenheit», «Empfindung», «Heilige Stunde» oder eben «Entzücktes Weib» ste­hen oft für den Ausdruck der Bewunderung der Menschen für die Schönheit der Natur, meist dar­ge­stellt in der Form von Blumen wie in den ers­ten drei Fassungen des Entzückten Weibes

Objekt kau­fen:

Femme en extase (Ausschnitt)

Femme en extase (Ausschnitt)

Ferdinand Hodler, um 1911

Die Komposition Entzücktes Weib exis­tiert als in Ölfarbe aus­ge­ar­bei­te­te, ganz­fi­gu­ri­gen Komposition in vier Versionen. Alle vier Fassungen sind wohl im Frühjahr 1911 ent­stan­den, wo­bei da­von aus­zu­ge­hen ist, dass die hier zum Verkauf ge­lan­gen­de Studie aus dem glei­chen Jahr stammt und als Entwurf für die Ölgemälde ge­dient hat… Ein Berliner Korrespondent fasst sei­nen Eindruck vom Entzückten Weib in fol­gen­de Worte: «[…] Und doch ist die­ser Männermaler zu­gleich ein Frauenmaler gros­sen Stiles. Nicht nur die Jungfrau ge­lingt ihm, er liebt das ent­schlos­se­ne Weib, ras­si­ge Körper, die Mütter wer­den, ohne zu al­tern. Frauen ohne Träume, aber nicht ohne Phantasie. […] Malte er frü­her – sehr sel­ten – eine ein­zel­ne Gestalt, so wirk­te sie doch wie ein Ausschnitt aus ei­nem sym­pho­ni­schen Reigen. Jetzt fängt er an, das ein­zel­ne zu lie­ben. Entzücktes Weib heisst ei­nes der letz­ten Bilder; kein frü­he­res könn­te so heis­sen. Keine Empfindung und kein Symbol: dies ist der Affekt des ein­zel­nen Menschen, alle rhyth­mi­sche Strenge ist auf­ge­löst, Freiheit be­wegt die Gestalt. Dies ist auch kei­ne Schweizerin, sie kommt vom Süden.» (Berliner Tagblatt, 28.3.1911)