Ferdinand Hodler trifft Muse: Giulia als spätes Schlüsselwerk von Hodler
Im letzten Jahr jährte sich Ferdinand Hodlers Todestag zum 100. Mal. Mehrere Museen in der Schweiz und im Ausland haben dem Jahrhundertkünstler grosse Ausstellungen gewidmet und fokussierten dabei insbesondere die Auseinandersetzung des Künstlers mit der Natur. Im Zentrum der Ausstellungen standen Gemälde Hodlers, welche vom Parallelismus geprägt sind – die malerische Anwendung des Eindruckes vom Künstler, die Natur sei von Symmetrien geprägt. Diese Werke weisen streng symmetrisch angeordnete Bildinhalte auf – zum Beispiel sich wiederholende Baumstämme in einer Allee oder symbolhaft angeordnete Oppositionen wie Tag und Nacht. Obwohl Hodler mit dem Konzept seinen eigenen Stil definiert und diesen öffentlich propagiert, sind insbesondere im Spätwerk einige Hauptwerke entstanden, welche die «Weltformel» des Künstlers brechen.
Die vorliegende, grossformatige Tuschzeichnung gehört zu den schönsten Beispielen «freier» Arbeiten aus dem Spätwerk von Ferdinand Hodler. Der Künstler zeigt die italienische Tänzerin Giulia Leonardi (geborene Gallo, 1878–1942) mit frontalem Oberkörper, die Schultern entblösst, den Kopf abgedreht. Die wallende Haarpracht, reduziert auf einige wenige gekonnt gesetzte Pinselstriche, wird zum eigentlichen Blickfang des Bildes. Alle der strengen Symmetrie gewidmeten Konzepte scheinen aufzubrechen: Der Künstler entwickelt durch die gegenläufigen Drehung von Brust und Kopfwendung, die fallenden Schultern und nicht zuletzt durch die Gestaltung des Hintergrundes eine über das Bild hinausweichende Dynamik. Ob dieses freie Komponieren wohl am Modell liegt? Überliefert ist, dass die Abgebildete regelmässig in einem Genfer Kaffeehaus auftritt, wo ihr Hodler 1910 zum ersten Mal begegnet. Der Künstler engagiert die Italienerin – gefangen von ihrer Schönheit und dem italienischen Temperament – sogleich als Modell. In den folgenden drei Jahren begegnet man ihr sowohl in ganzfigurigen Kompositionen, darunter «Entzücktes Weib» und in der nach links schreitenden Figur der «La Romanichelle», als auch in einer Reihe von Bildnissen. Der ausdrucksvolle Gestus der vor die Brust geführten Hände macht die starke Emotion dieses Entzückten Weibs oder – wie es der alte französische Titel noch deutlicher formuliert – dieser «Femme en Extase» glaubhaft. Bildtitel von Frauendarstellungen wie «Ergriffenheit», «Empfindung», «Heilige Stunde» oder eben «Entzücktes Weib» stehen oft für den Ausdruck der Bewunderung der Menschen für die Schönheit der Natur, meist dargestellt in der Form von Blumen wie in den ersten drei Fassungen des Entzückten Weibes
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Die Komposition Entzücktes Weib existiert als in Ölfarbe ausgearbeitete, ganzfigurigen Komposition in vier Versionen. Alle vier Fassungen sind wohl im Frühjahr 1911 entstanden, wobei davon auszugehen ist, dass die hier zum Verkauf gelangende Studie aus dem gleichen Jahr stammt und als Entwurf für die Ölgemälde gedient hat… Ein Berliner Korrespondent fasst seinen Eindruck vom Entzückten Weib in folgende Worte: «[…] Und doch ist dieser Männermaler zugleich ein Frauenmaler grossen Stiles. Nicht nur die Jungfrau gelingt ihm, er liebt das entschlossene Weib, rassige Körper, die Mütter werden, ohne zu altern. Frauen ohne Träume, aber nicht ohne Phantasie. […] Malte er früher – sehr selten – eine einzelne Gestalt, so wirkte sie doch wie ein Ausschnitt aus einem symphonischen Reigen. Jetzt fängt er an, das einzelne zu lieben. Entzücktes Weib heisst eines der letzten Bilder; kein früheres könnte so heissen. Keine Empfindung und kein Symbol: dies ist der Affekt des einzelnen Menschen, alle rhythmische Strenge ist aufgelöst, Freiheit bewegt die Gestalt. Dies ist auch keine Schweizerin, sie kommt vom Süden.» (Berliner Tagblatt, 28.3.1911)