Hirschmedaillons und Surrealismen: Ein Gespräch mit Peter Fischer
Surrealismus – ein magischer, verheissungsvoller Begriff. Wir denken an die schmelzenden Zifferblätter von Salvador Dalí, die Traumfiguren von René Magritte oder die geheimnisvollen Landschaften von Max Ernst. Aber gibt es einen Schweizer Surrealismus? Der Kurator und Kunstsachverständige Peter Fischer ist dieser Frage nachgegangen und hat im Aargauer Kunsthaus in Aarau die erste grosse Übersichtsausstellung zu diesem Thema ausgerichtet. Die Schau, welche vom 1. September 2018 bis zum 2. Januar 2019 über 400 Werke von über 60 Kunstschaffenden versammelt hat, wird ab dem 10. Februar 2019 in modifizierter Form im Museo d’Arte della Svizzera Italiana (MASI) in Lugano gezeigt.
Auf eletto.ch publizieren wir monatlich ein Gespräch mit einer Persönlichkeit aus der Kunstwelt. Diese Gespräche finden in einem Lieblingsrestaurant des Befragten statt. Das folgende Gespräch mit Peter Fischer hat wegen einer gleich nach unserem Interview stattfindenden Podiumsdiskussion mit Paul Nizon ausnahmsweise im Aargauer Kunsthaus stattgefunden. So haben wir mit dem Kurator nicht bei Pulpo und einer Karottensuppe im über das Projekt «Surrealismus Schweiz» gesprochen, sondern im Café des Aargauer Kunsthauses. Nach dem Gespräch hat uns Peter Fischer eröffnet, dass er am liebsten zu Hause esse. Als ein leidenschaftlicher Koch und als Bewohner des wald- und wildreichen Seetals liebe er insbesondere die Wildsaison. «Falls doch mal auswärts» – esse der Ausstellungsmacher «gerne ein paar leckere Vorspeisen am langen Stammtisch des Restaurants La Salle im Zürcher Schiffbau».
Die Ausstellung «Surrealismus Schweiz» versammelt über 400 Werke von 60 Künstlerinnen und Künstlern. Das älteste Werk datiert in das Jahr 1920, das jüngste ist im letzten Jahr entstanden. Sind Sie bereits in der frühen Konzeptionsphase von einer solch reichhaltigen Ausstellung ausgegangen?
Ausstellungen konzipiere ich in der Regel nicht auf Basis eines theoretischen Textkonzeptes. Deshalb ist die initiative Planungsphase vielmehr dem Erstellen eines grossen Gedanken- und Bilderpools gewidmet, in welchem potentielle Inhalte frei herumschwirren. Ich hatte also zu Beginn keine konkrete Vorstellung, wie die Ausstellung schliesslich aufgebaut sein werde.
Mit welchen Inhalten hat sich dieser Pool gefüllt?
Beim Thema Surrealismus denken die meisten Menschen sofort an die schmelzenden Zifferblätter von Salvador Dali oder an die Traumfiguren von René Magritte. Diese Künstler gehören zum engeren Kreis der surrealistischen Bewegung, welche sich in Paris unter dem Einfluss von Sigmund Freud und unter der Leitung von André Breton zwischen 1919 und 1924 entfaltet hat. Selbstverständlich bin ich von diesem historisch geprägten Surrealismus ausgegangen und habe Berührungspunkte zwischen Schweizer Kunstschaffenden und dem Kreis um André Breton ausgelotet. Zugleich habe ich aber versucht, den Surrealismus als künstlerisches Potential zu verstehen, welches zeitlos ist. Letztere Herangehensweise hat es mir erlaubt, mit einer grossen Offenheit künstlerische Werke zu suchen, welche von Träumen und Fantasien erzählen, vom Körper als Objekt der Begierde oder Sinnbild von existenzieller Bedrängnis, Schrecken, Krieg und Tod, ebenso von spirituellen Ordnungen, vom Kosmos der Natur als Metapher für Leben und Wachstum.
Sie sind also von Anfang an sehr offen mit dem Begriff Surrealismus umgegangen. Ist dieser Entscheid zur breiten Auslegung dieses Begriffes auch eine Möglichkeit zur besseren Vermittlung des Themas?
Da ich mich als Universalist verstehe – und zudem sowohl Kunsthistoriker wie Kunstvermittler sein will – interessiert mich die Rezeption eines Themas und von Kunstwerken im Besonderen- sehr stark. Deshalb war mir das Schaffen einer fordernden – in ihrer Fülle bewusst manchmal auch überfordernden Ausstellung – ein zentrales Anliegen. Diese überwältigende Vielfalt soll aufzuzeigen, dass der Begriff «Surrealismus» nicht nur Themen umschreibt, sondern auch zur Beschreibung von künstlerischen Techniken verwendet werden kann. Surrealismus ist nicht ein Phänomen, welches in sich abgeschlossen ist, sondern eine nicht zeitgebundene Möglichkeit, einem Thema gegenüberzutreten und auf besondere Weisen Kunst zu schaffen. Geschichtlich könnte man wohl zurückgehen bis zu den Höhlenmalereien, welche ja auch kultische, metaphysische Aspekte beinhalten und das faktische Abbilden negieren. Letzteres ein typisches Anliegen des Pariser Surrealismus. Dieses Phänomen der Kunstgeschichte als Konstante zeige ich in der Ausstellung zwar nicht unter Einbezug von künstlerischen Positionen vor dem Surrealismus, jedoch durch den Entscheid, auch Zeitgenossen zu präsentieren.
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Wie reagieren die zeitgenössischen Kunstschaffenden, wenn sie die Einladung zu einer «Surrealismus-Ausstellung» erhalten?
Die meisten haben spontan mit Erstaunen reagiert, da sie sich nicht als Surrealisten im historischen Sinn sehen und auch nicht als solche bezeichnen würden. Ich habe ihnen dann erklärt, dass es nicht um eine Etikettierung geht, sondern darum, mit dem Surrealismus eine künstlerische Haltung in den Vordergrund zu stellen. Dies haben sie gut nachvollziehen können und haben allesamt mit grossem Interesse an der Werkauswahl mitgearbeitet.
Gibt es zeitgenössische Kunstschaffende, welche ihre Arbeiten durch die Ausstellung in einem neuen Licht sehen?
Der Austausch mit den zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern ist in jedem Fall sehr bereichernd gewesen und hat meinen Entschluss bestätigt, den Begriff Surrealismus offen auszulegen. In einem öffentlichen Gespräch anlässlich der Ausstellung, hat beispielsweise Not Vital direkte Links zum Surrealismus verraten. Zum Beispiel die Entdeckung vieler anderer surrealistischer Künstler. Auch Dank seiner Freundschaft mit dem Berner Kunsthistoriker Max Huggler, der in Sent ein Maiensäss besessen hat. Wir haben im Gespräch dann auch über Surrealismen in seinem Werk gesprochen, etwa seine Vorliebe für hybride Formen, dafür, Sachen zusammen zu bringen, die eigentlich nicht zusammen gehören. Diese Enttextualisierung, sei es durch Vergrössern von Objekten oder Verfremdung von scheinbar Bekanntem durch ungewöhnliche Materialien – beides umgesetzt in der ausgestellten Bronze «Paw Pow» von 1984 –, ist sehr verwandt mit Konzepten der surrealistischen Bewegung.
Beim Surrealismus steht die künstlerische Haltung im Zentrum und nicht das «Produkt».
Wenn wir Surrealismus als künstlerische Haltung oder Technik sehen, sind wohl grundsätzlich viele künstlerische Strömungen nach dem 2. Weltkrieg unter dem Einfluss des Surrealismus entstanden?
Genau. Wenn wir beispielsweise an die Fluxus-Bewegung der 1980er-Jahre oder an den Nouveau Réalisme denken, etwa an die Arbeiten von Jean Tinguely, welche mit Automatismen spielen wie seine Méta-Matic-Zeichnungsmaschinen, so ist eine Verwandtschaft zum Surrealismus unmöglich zu negieren. Selbstverständlich haben diese Künstler eine andere Haltung gegenüber ihrem Schaffen, und die Ironie spielt eine wichtige Rolle. Not Vital sieht sich ebenfalls nicht als Surrealist, macht aber wie Spoerri, Tinguely, Thomkins und Co. mit seinem Hang zur Idee des «Formlosen» (den Begriff «L’informe» hat 1929 Georges Bataille geprägt) deutlich, dass fast alle Nachkriegsavantgarden sich ohne den Surrealismus der 1920er- und 1930er-Jahre nicht gleichermassen entwickelt hätten. So komponiert Vital seine Werke oftmals nicht auf ein vorher geplantes Ergebnis hin, sondern lässt dynamische Prozesse anschaulich werden.
Sie haben die Ausstellung in Themenbereiche unterteilt. Gibt es innerhalb dieser Themengebiete Gewichtungen in Bezug auf die Bedeutung der einzelnen Kunstschaffenden?
Meine Ko-Kuratorin Julia Schallberger und ich haben uns dazu entschlossen, in den Themenräumen die Werke unabhängig von Namen, Datierungen oder ihrer qualitativen Unterschiede zu behandeln. So hängen die Malereien von Francisco Sierra beispielsweise direkt neben einer Skulptur von Alberto Giacometti, die 1929, also achtzig oder mehr Jahre zuvor entstanden und zu einer surrealistischen Ikone geworden ist. Gleiches gilt für sogenannte Wiederentdeckungen. Heute weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler sind eingebettet zwischen bekanntere Positionen. Damit nehmen wir keine Wertungen vor, sondern ermächtigen das Publikum, selbst persönliche Entdeckungen (oftmals auch im vermeintlich Bekannten) zu machen und vielleicht zu erkennen, dass das verbindende Element die Bemühung von Kunstschaffenden ist, sich mit ihrer Welt auseinanderzusetzen und die Erkenntnisse daraus in spezieller- eben surrealistischer- Weise in Bilder zu fassen.
Dieses vielschichtige Mitteilen von Gedanken ist bei vielen Künstlern um 1918–1930 auch in der Schweiz zu beobachten. Wir denken spontan an den ursprünglich deutschen Künstler Christian Schad, welcher im ersten Weltkrieg, 1915, in die Schweiz geflüchtet ist und hier verschiedene Kunstströmungen miteinander kombiniert hat. Spannend ist, dass am Anfang von Schads Schaffen plötzlich das Experiment sowie das Spontane im Vordergrund gestanden ist: Als Maler hat sich Schad der Idee einer absoluten Freiheit verschrieben. Handelt es sich dabei vielleicht um eine typisch «Schweizerische» Haltung, da die Schweiz von den eigentlichen Wirren des Krieges verschont geblieben ist und die Künstler Raum für solche Entfaltungen gefunden haben?
Die Idee der absoluten Freiheit wird ja dann zehn Jahre später zu einer Kernbotschaft der Surrealisten, von der sich in der Folge auch viele Schweizer haben verführen lassen, so auch Christian Schads Namensvetter mit Doppel-A, der Schaffhauser Maler Werner Schaad. Auffällig ist, dass es tatsächlich einige wichtige Schweizer oder mit der Schweiz eng verbundene Künstler gegenben hat, welche surrealistische Techniken «avant la lettre» angewendet haben: Ich denke an Paul Klee mit seiner Introspektion, aber auch der freien Linienführung, an Otto Tschumi mit seinem Frühwerk «Phantasmagorien» und dann vor allem an Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp mit ihren dadaistischen Arbeiten. Aber dass dafür die Rolle der Schweiz während des ersten Weltkrieges ausschlaggebend gewesen wäre, scheint mir, zumindest in den erwähnten Fällen, nicht ausschlaggebend gewesen zu sein. So ist ja etwa Klee in den Zehner- und Zwanzigerjahren fast ausnahmslos in Deutschland tätig gewesen.
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Kommen wir zum Titel der Ausstellung: «Surrealismus Schweiz». Lässt sich für Sie ein typisch schweizerischer Surrealismus beschreiben?
Der Titel heisst ja mit Bedacht nicht «Schweizer Surrealismus». Es muss grundsätzlich festgehalten werden, dass Surrealismus nicht einen Stil und schon gar nicht einen wiedererkennbaren bezeichnet. Surrealistische Kunst sieht also immer anders aus. Verbindendes kann man selbstverständlich an den Theorien um Breton festmachen. Dabei steht die künstlerische Haltung im Zentrum und nicht das «Produkt». Bezüglich der Schweiz ist einerseits das vorher Beschriebene zum Thema Surrealismus «avant la lettre» bemerkenswert. Weiter gibt es den Kreis derjenigen Künstler, die direkt an der Pariser Bewegung beteiligt gewesen sind und in den grossen Surrealisten-Ausstellungen in London oder Paris ausgestellt haben (Alberto Giacometti, Serge Brignoni, Kurt Seligmann, Meret Oppenheim, Gérard Vulliamy). Viele Künstler haben sich jedoch gar nie dem Korsett der manchmal engstirnigen Bewegung eingeschrieben, sondern sind ihre eigenen Wege gegangen. Im Gegensatz zu Frankreich sind in der Schweiz die Künstlergruppierungen keine intellektuellen Zirkel, in denen künstlerische Doktrinen diskutiert und verteidigt werden, sondern rein pragmatische Zusammenschlüsse von Vertretern unterschiedlicher Avantgarden. Und, auch im Gegensatz zu Frankreich: Die Literatur hat eine untergeordnete Rolle gespielt. Ob dies geschichtlich begründet oder eine Mentalitätsfrage ist, lässt sich im Rückblick nur schwer beurteilen. Es ist auffällig, dass sowohl der «Röstigraben» als auch der Gotthard nicht förderlich gewesen sind für kooperative Strömungen. Die Tessiner sind bis zum Krieg nach Mailand ausgerichtet gewesen, danach isoliert. Die Romands haben viel stärker als die Deutschschweizer unter den Folgen der Wirtschaftskrise und der konservativen Kulturpolitik der Dreissigerjahre gelitten. Eines lässt sich aber übereinstimmend feststellen: Werke, welche Schweizer Künstler während und nach dem zweiten Weltkrieg geschaffen haben, zeichnen sich überraschend häufig durch belastende, existenzielle Themen aus. Alles ist schrecklich, alles ist in Gefahr, alles droht auseinanderzubrechen!
Ist dies nicht ein Widerspruch?
Die Schweiz ist bekanntlich vom Krieg verschont geblieben. Aus Frankreich ist während des Krieges ein grosser Teil der Kunstschaffenden nach New York emigriert. Diejenigen, die geblieben sind, haben sich im Widerstand engagiert, so dass es im Lande kaum mehr eine signifikante Kunstproduktion gegeben hat. New York jedoch ist weit von Europa entfernt, und sowohl in den Zirkeln der exilierten französischen, ja europäischen Intelligenzia wie im Umkreis der progressiven «School of New York» hat eine euphorische Stimmung geherrscht. Während dieser Zeit ist die Schweiz zwar vom Kriegsgeschehen verschont geblieben, doch die Bedrohung aus dem Norden und später von allen Seiten ist aber stets sehr konkret da gewesen. Dank guter und neutraler Berichterstattung ist man sich der geopolitischen Situation und der Kriegsgräuel sehr bewusst gewesen. Dies mag eine Erklärung für die düsteren Werke sein, mit denen Schweizer Künstler und Künstlerinnen versucht haben, der bedrückenden Stimmung Ausdruck zu verleihen.
Wie ist das Publikum mit dieser sicher auch herausfordernden Ausstellung umgegangen?
Viele Leute haben nach dem Verlassen der Ausstellung ein Mitteilungsbedürfnis. Sie sind emotional mitgenommen im besten Wortsinn. Die gewaltige Fülle der Bilder und Objekte – eine bewusste inszenatorische Geste als Reverenz an den Surrealismus – mag bedrohlich erscheinen, aber auch berauschend sein. Die Überwältigung konfrontiert uns auch mit unserer Gegenwart. Auch sie ist geprägt von Widersprüchen. Zudem führt der labyrinthische Aufbau der Ausstellung zu keinem eigentlichen Ende. Der scheinbar letzte Raum mündet nicht in einen Ausgang, sondern führt wieder in einen vorderen Raum des schneckenartigen Parcours. Hier kann die Weltenbetrachtung von Neuem beginnen.
Zum Schluss: Was sammeln Sie?
Sammeln mit Leidenschaft tue ich nicht. Es häuft sich ganz unspektakulär das eine und das andere zusammen. Für Institutionen gilt das aber nicht: Die Sammlung des Kunstmuseums Luzern während meiner Zeit als Direktor dort sinnvoll zu erweitern, war eines meiner Hauptanliegen. Jetzt versuche ich dasselbe als Mitglied der Sammlungskommission des Aargauer Kunsthauses.
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