3. Januar 2019

Gaga feat. Dürer: Apokalypt­ische Bildsprachen

Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986, ein­stür­zen­de Türme am 11. September 2001 und 230’000 Tote beim Erdbeben im Indischen Ozean 2004: Diese drei grau­en­vol­len Vorkommnisse stel­len be­ängs­ti­gen­de Zäsuren in der Geschichte der letz­ten 50 Jahre dar. Die ka­ta­stro­pha­len Ereignisse kön­nen zu­sam­men­fas­send mit dem Begriff «Apokalypse» be­schrie­ben wer­den, wel­cher heu­te als Synonym für Untergangsszenarien ver­wen­det wird. Ursprünglich geht der Ausdruck je­doch zu­rück auf das letz­te Buch des neu­en Testaments – der «Offenbarung des Johannes». Die bi­bli­sche Schrift be­schreibt ei­ner­seits mög­li­che Vorkommnisse am Ende der Zeit und an­de­rer­seits Möglichkeiten zur Abwendung der kom­men­den Katastrophen und schliess­lich den Sieg Gottes über das «Böse». Die «Offenbarung des Johannes» hat Redewendungen ge­prägt, die noch heu­te in al­ler Munde sind. Sie spricht von «vier apo­ka­lyp­ti­schen Reitern», vom «Buch mit sie­ben Siegeln», von ei­nem «Tausendjährigen Reich» und «Armageddon» – dem Schauplatz des Endkampfes zwi­schen Gut und Böse.

Der pro­phe­ti­sche Text ist seit über 500 Jahren bild­ne­ri­sche Inspirationsquelle für Künstlerinnen und Künstler. Das Druckwerk «Apocalipsis cum fi­gu­ris» von Albrecht Dürer (1471–1528) gilt mit sei­nen 15 gross­for­ma­ti­gen Holzschnitten als künst­le­ri­sches Meisterwerk aus dem Übergang vom spä­ten Mittelalter in die frü­he Neuzeit. Das Blatt 11 aus dem Grafik-Zyklus trägt den Titel «Das Tier mit den Lammhörnern» (um 1496/97) und wird hier in schö­nem Erhaltungszustand zum Kauf an­ge­bo­ten. Der nach­fol­gen­de «Lupenblick» ent­hüllt über­ra­schen­de Details die­ses Meisterwerkes und schlägt die Brücke zu mo­der­nen und ge­gen­wär­ti­gen Kunstschaffenden – so­wohl der Filmermacher Fritz Lang als auch die US-Amerikanische Sängerin Lady Gaga ha­ben sich dem Thema «Apokalypse» bild­ne­risch an­ge­nom­men.

Das Tier mit den Lammhörnern

Das Tier mit den Lammhörnern

Albrecht Dürer, um 1496/97

Druckzustand
Beim Holzschnitt han­delt es sich um ein druck­gra­fi­sches Verfahren, wel­ches die mehr­fa­che Reproduktion ei­nes Werkes er­laubt. Gleiches gilt bei­spiels­wei­se für den Linolschnitt oder die Lithographie. Für Laien schau­en Drucke vom glei­chen Holzstock oft­mals iden­tisch aus. Experten und Händler un­ter­schei­den je­doch ver­schie­de­ne Druckzustände. So kann es sein, dass der Künstler im Nachhinein den Holzstock ver­än­dert und Änderungen an­bringt. Zudem wird der Druckstock durch viel­fa­ches Drucken et­was be­schä­digt, was im Laufe der Zeit we­ni­ger qua­li­täts­vol­le Abzüge zur Folge hat. Bei der Apokalypse-Serie von Dürer sind die­se Veränderungen schön zu be­ob­ach­ten, da der Zyklus mehr­fach her­aus­ge­ge­ben wor­den ist. Die ers­ten zwei Ausgaben – in deut­scher und in la­tei­ni­scher Sprache – er­schie­nen im Jahr 1498. Alle die­se Graphiken der ers­ten Ausgabe zeich­nen sich durch eine hohe Druckqualität aus. Im Jahr 1511 (un­ser Blatt) legt der Künstler die la­tei­ni­sche Ausgabe noch­mals auf. Die Drucke die­ser Ausgabe sind wei­ter­hin gut in der Qualität, je­doch sind sie et­was we­ni­ger klar und das Papier hat oft­mals eine brau­ne Tönung. Da das hier zum Verkauf an­ge­bo­te­ne Exemplar eine aus­sero­dent­lich gute Qualität auf­weist und das Papier na­he­zu weiss ist, kann nur durch den la­tei­ni­schen Text auf der Rückseite mit Sicherheit ge­sagt wer­den, dass es sich um ei­nen Abzug von 1511 han­delt: Die Schrift des Textes un­ter­schei­det sich von der 1498-er Auflage.

Albrecht Dürer (1471–1528)
Der Deutsche Maler, Grafiker und Kunsttheoretiker Albrecht Dürer ge­hört zu den be­deu­tends­ten Künstlern aus der Zeit des Übergangs von der Spätgotik zur Renaissance. Inhaltlich hat der Künstler ei­ner­seits christ­lich-re­li­giö­se Themen und an­de­rer­seits welt­li­che Sujets wie Personenbildnisse oder na­tu­ra­lis­ti­sche Darstellungen ver­ar­bei­tet. Der Sohn des aus Ungarn ein­ge­wan­der­ten Goldschmieds Albrecht Türer d.Ä. (1427-1502) ist zu­nächst von sei­nem Vater zum Goldschmied aus­ge­bil­det wor­den. Danach folgt eine Lehre bei Maler Michael Wolgemut, wel­cher ihn auch in die Technik des Holzschnittes ein­führt hat. Nach aus­ge­dehn­ten Lehr-Wanderschaften (Colmar, Strassburg und Basel) fol­gen zahl­rei­che Reisen (ins­be­son­de­re Italien und Niederlande). Seine Selbstportraits re­flek­tie­ren das Persönlichkeitsbewusstsein des Renaissancemenschen. Dürer stirbt – eu­ro­pa­weit be­rühmt als Künstler – am 6. April 1528 ver­mut­lich an den Folgen ei­nes Fiebers.

Holzschnitt
Der Holzschnitt ge­hört zu den äl­tes­ten be­kann­ten Drucktechniken. Aus ei­nem höl­zer­nen Block wer­den re­li­ef­ar­tig Teile her­aus­ge­schnit­ten, um an­schlies­send die er­höh­ten Stellen ein­zu­fär­ben und mit der Hand oder mit Hilfe ei­ner Presse auf Papier zu dru­cken. Dabei ent­steht ein sei­ten­ver­kehr­ter Abdruck (Hochdruck). Die äl­tes­ten be­kann­ten Holzschnitte sind in China ent­stan­den vor über 2000 Jahren. In Europa sind Holzschnitte ab dem 12. Jahrhundert nach­zu­wei­sen, wo­bei der auf­kom­men­de Buchdruck am Ende des 15. Jahrhunderts erst­mals eine mas­sen­haf­te Verbreitung von Holzschnitten er­mög­licht hat. Mit Albrecht Dürer er­reicht der Holzschnitt eine neue Ebene. Seine gros­sen Holzschnitt-Folgen, al­len vor­an die hier ge­zeig­te «Apokalypse» mit ih­ren mo­nu­men­ta­len und dra­ma­ti­schen Kompositionen, ha­ben dem Holzschnitt neue Geltung ge­bracht.

«Apokalypse»
«Die Apokalypse» (alt­grie­chisch: Offenbarung, Prophezeiung) ist das letz­te Buch des Neuen Testaments, ge­schrie­ben in der zwei­ten Hälfte des 1. Jhs. nach Christus. Die Autorschaft der «Apokalypse» wird nach kirch­li­cher Meinung dem Evangelisten Johannes zu­ge­schrie­ben, wel­cher wäh­rend sei­ner Verbannung auf der Insel Patmos im Ägäischen Meer eine Erscheinung über das Ende der Welt und das Schicksal der Menschheit hat. Der Text pro­phe­zeit die zwei­te Wiederkehr von Christus auf Erden und das Jüngste Gericht, bei dem alle ge­rich­tet wer­den, «ein jeg­li­cher nach sei­nen Werken». Die Prophezeiungen der «Apokalypse» wer­den in Europa be­son­de­res in schlech­ten Zeiten, wäh­rend schlim­mer Ereignisse wie Kriege oder Missernten ak­tu­ell. Der Grafikzyklus von Dürer er­scheint kurz vor 1500, wäh­rend Pestepidemien, Bauernunruhen und der sich ein­stel­len­den re­li­giö­sen Zwietracht am Vorabend der Reformation. Die Holzschnittfolge fer­tigt Dürer um 1497/98 in Nürnberg, di­rekt nach ei­ner län­ge­ren Reisezeit. Die Serie be­steht aus 15 gross­for­ma­ti­gen Holzschnitten, wel­che als die im Format gröss­ten und künst­le­risch in­no­va­tivs­ten Druckgrafiken des 15. Jahrhunderts gel­ten und den Künstler be­reits da­mals be­rühmt ge­macht ha­ben.

«Tier mit Lammhörnern»
Beim hier vor­lie­gen­den Holzschnitt «Tier mit den Lammhörnern» han­delt es sich um das elf­te Blatt aus der «Apokalypse»-Foge. Augenfällig ist ein sie­ben­köp­fi­ges Ungeheuer, wel­ches aus dem Meer auf­steigt und von ei­ner Menschenschar be­staunt wird. Dem himm­li­schen Jubel über den Sturz des Drachen (Blatt 10 der «Apokalypse») steht mit dem hier an­ge­bo­te­nen Blatt der schein­ba­re Triumph der Tiere auf der Erde ge­gen­über. Der Drache über­eig­net sei­ne Macht ei­nem wei­te­ren sie­ben­köp­fi­gen Ungeheuer, dem «Tier aus dem Meer». Ihm folgt das «Tier mit den Lammhörnern». Es voll­bringt er­staun­li­che Wunder und ver­führt die Menschen dazu, «das ers­te Tier» an­zu­be­ten. Dürers Tier aus dem Meer ist ein Monstrum mit schlan­gen­ar­tig ge­wun­de­nen Hälsen, die in sie­ben Köpfen mün­den (sie­he Offb. 13,1-8). Entfernt er­in­nern sie an Ziegenbock, Löwe, Kaninchen, Schnecke, Schlange und Strauss – Tiere, die als Symbole mensch­li­cher Laster und der sie­ben Todsünden gel­ten. Dem Kopf am rech­ten Bildrand wird von ei­nem kreuz­tra­gen­den Engel mit dem Schwert eine töd­li­che Wunde zu­ge­fügt, die aber wie­der ver­heilt.

Markenzeichen
Am un­te­ren Bildrand des «Tier mit den Lammhörnern» ist das gros­se Monogramm «AD» von Albrecht Dürer er­sicht­lich. Der Künstler ist ei­ner der ers­ten, wel­cher Druckgrafiken sys­te­ma­tisch mit ei­nem Monogramm ge­kenn­zeich­net hat. Um zum schön pro­por­tio­nier­ten Monogramm «AD» zu ge­lan­gen, gleicht der Künstler die von sei­nem Vater ge­brauch­te Schreibweise «Türer» an die in Nürnberg gül­ti­ge frän­ki­sche Aussprache der har­ten Konsonanten an und wan­delt sei­nen Namen in «Dürer» um. Daraus ent­steht sein Monogramm, das gros­se A mit dem un­ter­ge­stell­ten D. Bei die­ser auf­fäl­li­gen Signatur han­delt es sich um eine der ers­ten Urheberangaben. Diese wird we­gen der ho­hen Qualität der künst­le­ri­schen Arbeiten bald zu ei­nem Qualitätssiegel und ent­spre­chend ko­piert. Obwohl in die­ser Zeit Themen wie Geistiges Eigentum und Urheberschutz noch nicht üb­lich sind, hat der Künstler Kopisten und Fälscher des Markenzeichens straf­recht­lich ver­folgt – da­mit ist er ein Pionier auf die­sem Gebiet ge­we­sen.

Gesellschaftsgruppen
Gerahmt vom Feuerregen, be­tritt das «Tier mit den Lammhörnern» wie durch ein Tor den ir­di­schen Schauplatz (sie­he Offb. 13,11-18) – ein zäh­ne­flet­schen­des, lö­wen­ar­ti­ges Wesen. Vor bei­den Tieren kni­en ehr­fürch­tig Vertreter al­ler Stände, in zwei ge­sell­schaft­li­che Gruppen auf­ge­teilt. Links be­fin­det sich das ein­fa­che Volk, rechts, der Bestie am nächs­ten, die aus Kaufleuten so­wie geist­li­chen und welt­li­chen Würdenträgern be­stehen­de Oberschicht.

Gottvater
Ein brei­tes, schlan­gen­ar­ti­ges Wolkenband trennt den ir­di­schen vom himm­li­schen Bereich. Mit dem Pluviale (hoch­ze­re­mo­ni­el­len Priestergewand) be­klei­det, thront Gottvater über dem Geschehen. Er trägt eine Kaiserkrone und hält in der Rechten Hand eine Sichel, die auf den künf­ti­gen Feldzug ge­gen die Geschöpfe Satans vor­aus­deu­tet (sie­he Offb. 14,14-20). Seine Streiter hat Gott be­reits aus­ge­sandt. Zur Rechten Gottes sind ihm zwei Engel an­be­tend zu­ge­wandt – sie ver­deut­li­chen an­ge­sichts der Abtrünnigen auf Erden, wem wahr­haft Verehrung ge­bührt.

Pflanzensymbolik
Am Rand der lin­ken Gruppe ist eine klei­ne Figur dar­ge­stellt, die durch ihre selt­sa­me Kopfbedeckung auf­fällt. Sie trägt eine Art Helm mit ei­nem krä­hen­den Hahn als Verzierung: «der Hahn steht für die Beredsamkeit ei­nes ,Volksverführers‘, der den Auftrag des ,Tiers mit den Lammshörner‘ um­set­zen hilft» (Krüger 2002, S. 98). Dürer stellt ihm ei­nen Gegenspieler ge­gen­über, und zwar den Mann, der am lin­ken Bildrand of­fen­bar ge­ra­de her­an­ge­tre­ten ist und ab­weh­rend-mah­nend die Hände er­ho­ben hat. Diese Gestalt äh­nelt der Figur, die im 5. Holzschnitt (Versiegelung der Auserwählten) ge­ra­de das Kreuz aus der Hand ei­nes Engels emp­fängt. Und er ist er­neut in der Gruppe der Märtyrer im fol­gen­den 12. Holzschnitt zu se­hen – ha­ben doch jene, die sich nicht von dem Meerungeheuer und sei­nem ir­di­schen Handlanger ha­ben ver­füh­ren las­sen, mit dem Leben ge­büsst. Bei der hoch­ge­wach­se­nen Pflanze rechts ne­ben ihm han­delt es sich um eine Akalei – sie gilt we­gen der ihr zu­ge­schrie­be­nen Heilkraft als Christus- und Mariensymbol. Von ihr wen­det sich das Volk ab und dem Verführer zu.

Lady Gaga
Die US-Amerikanische Sängerin Lady Gaga nennt den ex­pres­sio­nis­ti­schen Film «Metropolis» (1929) von Fritz Lang als eine ih­rer wich­ti­gen Inspirationsquellen zum Musikvideo «Alejandro» (2011). Wie im mo­nu­men­ta­len Stummfilm von Fritz Lang, zeigt das Musikvideo zahl­rei­che fu­tu­ris­tisch an­mu­ten­de Szenen, wel­che von Zerstörung und Versöhnung be­rich­ten. Dabei wer­den die Themenfelder Schmerz, Liebe, Klassenkämpfe und Hoffnung glei­cher­mas­sen an­ge­spro­chen, ohne ei­nen prä­zi­sen Erzählsprung zu ver­fol­gen. Sowohl Fritz Lang als auch Lady Gaga ste­hen be­züg­lich Themen und Bildsprache in ei­ner lan­gen Tradition: Das bi­bli­sche Bild der Apokalypse wird von Kunstschaffenden seit über 500 Jahren vi­su­ell um­ge­setzt.

Vorbilder
Albrecht Dürer hat sich beim Holzschnitt «Das Tier mit den Lammhörnern» von an­de­ren Künstlern in­spi­rie­ren las­sen. Der deut­sche Kunsthistoriker Peter Krüger schreibt dazu: «Die Komposition in der un­te­ren Bildhälfte mit dem sie­ben­köp­fi­gen Tier aus dem Meer auf der rech­ten Seite und dem von Feuerregen be­glei­te­ten Tier mit den Lammshörnern, das auf der lin­ken Seite der Erde ent­steigt, hat Dürer aus der Kölner Bibel über­nom­men, eben­so die Gruppe der den Meerdrachen an­be­ten­den ge­krön­ten Häupter. Unter dem Tier mit den Lammshörnern ist in dem Kölner Holzschnitt eine Erschlagungsszene dar­ge­stellt; die­se er­setzt Dürer durch eine Gruppe ge­mei­nen Volkes.» (Peter Krüger: Das Tier mit den Lammhörnern, in: Albrecht Dürer. Das druck­gra­phi­sche Werk Band 2, München u.a. 2002, Kat.-Nr. 123, S. 98). Bemerkenswert ist, dass Dürer sein Vorbild «kor­ri­giert» hat: Im Gegensatz zum Holzschnitt in der Kölner Bibel, gibt der Meister die kor­rek­te Anzahl Kronen wie­der, näm­lich zehn.

Das so­eben un­ter die Lupe ge­nom­me­ne Werk steht hier zum Kauf be­reit:

Das Tier mit den Lammhörnern

Das Tier mit den Lammhörnern

Albrecht Dürer, um 1496/97