Gaga feat. Dürer: Apokalyptische Bildsprachen
Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986, einstürzende Türme am 11. September 2001 und 230’000 Tote beim Erdbeben im Indischen Ozean 2004: Diese drei grauenvollen Vorkommnisse stellen beängstigende Zäsuren in der Geschichte der letzten 50 Jahre dar. Die katastrophalen Ereignisse können zusammenfassend mit dem Begriff «Apokalypse» beschrieben werden, welcher heute als Synonym für Untergangsszenarien verwendet wird. Ursprünglich geht der Ausdruck jedoch zurück auf das letzte Buch des neuen Testaments – der «Offenbarung des Johannes». Die biblische Schrift beschreibt einerseits mögliche Vorkommnisse am Ende der Zeit und andererseits Möglichkeiten zur Abwendung der kommenden Katastrophen und schliesslich den Sieg Gottes über das «Böse». Die «Offenbarung des Johannes» hat Redewendungen geprägt, die noch heute in aller Munde sind. Sie spricht von «vier apokalyptischen Reitern», vom «Buch mit sieben Siegeln», von einem «Tausendjährigen Reich» und «Armageddon» – dem Schauplatz des Endkampfes zwischen Gut und Böse.
Der prophetische Text ist seit über 500 Jahren bildnerische Inspirationsquelle für Künstlerinnen und Künstler. Das Druckwerk «Apocalipsis cum figuris» von Albrecht Dürer (1471–1528) gilt mit seinen 15 grossformatigen Holzschnitten als künstlerisches Meisterwerk aus dem Übergang vom späten Mittelalter in die frühe Neuzeit. Das Blatt 11 aus dem Grafik-Zyklus trägt den Titel «Das Tier mit den Lammhörnern» (um 1496/97) und wird hier in schönem Erhaltungszustand zum Kauf angeboten. Der nachfolgende «Lupenblick» enthüllt überraschende Details dieses Meisterwerkes und schlägt die Brücke zu modernen und gegenwärtigen Kunstschaffenden – sowohl der Filmermacher Fritz Lang als auch die US-Amerikanische Sängerin Lady Gaga haben sich dem Thema «Apokalypse» bildnerisch angenommen.
Druckzustand
Beim Holzschnitt handelt es sich um ein druckgrafisches Verfahren, welches die mehrfache Reproduktion eines Werkes erlaubt. Gleiches gilt beispielsweise für den Linolschnitt oder die Lithographie. Für Laien schauen Drucke vom gleichen Holzstock oftmals identisch aus. Experten und Händler unterscheiden jedoch verschiedene Druckzustände. So kann es sein, dass der Künstler im Nachhinein den Holzstock verändert und Änderungen anbringt. Zudem wird der Druckstock durch vielfaches Drucken etwas beschädigt, was im Laufe der Zeit weniger qualitätsvolle Abzüge zur Folge hat. Bei der Apokalypse-Serie von Dürer sind diese Veränderungen schön zu beobachten, da der Zyklus mehrfach herausgegeben worden ist. Die ersten zwei Ausgaben – in deutscher und in lateinischer Sprache – erschienen im Jahr 1498. Alle diese Graphiken der ersten Ausgabe zeichnen sich durch eine hohe Druckqualität aus. Im Jahr 1511 (unser Blatt) legt der Künstler die lateinische Ausgabe nochmals auf. Die Drucke dieser Ausgabe sind weiterhin gut in der Qualität, jedoch sind sie etwas weniger klar und das Papier hat oftmals eine braune Tönung. Da das hier zum Verkauf angebotene Exemplar eine ausserodentlich gute Qualität aufweist und das Papier nahezu weiss ist, kann nur durch den lateinischen Text auf der Rückseite mit Sicherheit gesagt werden, dass es sich um einen Abzug von 1511 handelt: Die Schrift des Textes unterscheidet sich von der 1498-er Auflage.
Albrecht Dürer (1471–1528)
Der Deutsche Maler, Grafiker und Kunsttheoretiker Albrecht Dürer gehört zu den bedeutendsten Künstlern aus der Zeit des Übergangs von der Spätgotik zur Renaissance. Inhaltlich hat der Künstler einerseits christlich-religiöse Themen und andererseits weltliche Sujets wie Personenbildnisse oder naturalistische Darstellungen verarbeitet. Der Sohn des aus Ungarn eingewanderten Goldschmieds Albrecht Türer d.Ä. (1427–1502) ist zunächst von seinem Vater zum Goldschmied ausgebildet worden. Danach folgt eine Lehre bei Maler Michael Wolgemut, welcher ihn auch in die Technik des Holzschnittes einführt hat. Nach ausgedehnten Lehr-Wanderschaften (Colmar, Strassburg und Basel) folgen zahlreiche Reisen (insbesondere Italien und Niederlande). Seine Selbstportraits reflektieren das Persönlichkeitsbewusstsein des Renaissancemenschen. Dürer stirbt – europaweit berühmt als Künstler – am 6. April 1528 vermutlich an den Folgen eines Fiebers.
Holzschnitt
Der Holzschnitt gehört zu den ältesten bekannten Drucktechniken. Aus einem hölzernen Block werden reliefartig Teile herausgeschnitten, um anschliessend die erhöhten Stellen einzufärben und mit der Hand oder mit Hilfe einer Presse auf Papier zu drucken. Dabei entsteht ein seitenverkehrter Abdruck (Hochdruck). Die ältesten bekannten Holzschnitte sind in China entstanden vor über 2000 Jahren. In Europa sind Holzschnitte ab dem 12. Jahrhundert nachzuweisen, wobei der aufkommende Buchdruck am Ende des 15. Jahrhunderts erstmals eine massenhafte Verbreitung von Holzschnitten ermöglicht hat. Mit Albrecht Dürer erreicht der Holzschnitt eine neue Ebene. Seine grossen Holzschnitt-Folgen, allen voran die hier gezeigte «Apokalypse» mit ihren monumentalen und dramatischen Kompositionen, haben dem Holzschnitt neue Geltung gebracht.
«Apokalypse»
«Die Apokalypse» (altgriechisch: Offenbarung, Prophezeiung) ist das letzte Buch des Neuen Testaments, geschrieben in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. nach Christus. Die Autorschaft der «Apokalypse» wird nach kirchlicher Meinung dem Evangelisten Johannes zugeschrieben, welcher während seiner Verbannung auf der Insel Patmos im Ägäischen Meer eine Erscheinung über das Ende der Welt und das Schicksal der Menschheit hat. Der Text prophezeit die zweite Wiederkehr von Christus auf Erden und das Jüngste Gericht, bei dem alle gerichtet werden, «ein jeglicher nach seinen Werken». Die Prophezeiungen der «Apokalypse» werden in Europa besonderes in schlechten Zeiten, während schlimmer Ereignisse wie Kriege oder Missernten aktuell. Der Grafikzyklus von Dürer erscheint kurz vor 1500, während Pestepidemien, Bauernunruhen und der sich einstellenden religiösen Zwietracht am Vorabend der Reformation. Die Holzschnittfolge fertigt Dürer um 1497/98 in Nürnberg, direkt nach einer längeren Reisezeit. Die Serie besteht aus 15 grossformatigen Holzschnitten, welche als die im Format grössten und künstlerisch innovativsten Druckgrafiken des 15. Jahrhunderts gelten und den Künstler bereits damals berühmt gemacht haben.
«Tier mit Lammhörnern»
Beim hier vorliegenden Holzschnitt «Tier mit den Lammhörnern» handelt es sich um das elfte Blatt aus der «Apokalypse»-Foge. Augenfällig ist ein siebenköpfiges Ungeheuer, welches aus dem Meer aufsteigt und von einer Menschenschar bestaunt wird. Dem himmlischen Jubel über den Sturz des Drachen (Blatt 10 der «Apokalypse») steht mit dem hier angebotenen Blatt der scheinbare Triumph der Tiere auf der Erde gegenüber. Der Drache übereignet seine Macht einem weiteren siebenköpfigen Ungeheuer, dem «Tier aus dem Meer». Ihm folgt das «Tier mit den Lammhörnern». Es vollbringt erstaunliche Wunder und verführt die Menschen dazu, «das erste Tier» anzubeten. Dürers Tier aus dem Meer ist ein Monstrum mit schlangenartig gewundenen Hälsen, die in sieben Köpfen münden (siehe Offb. 13,1–8). Entfernt erinnern sie an Ziegenbock, Löwe, Kaninchen, Schnecke, Schlange und Strauss – Tiere, die als Symbole menschlicher Laster und der sieben Todsünden gelten. Dem Kopf am rechten Bildrand wird von einem kreuztragenden Engel mit dem Schwert eine tödliche Wunde zugefügt, die aber wieder verheilt.
Markenzeichen
Am unteren Bildrand des «Tier mit den Lammhörnern» ist das grosse Monogramm «AD» von Albrecht Dürer ersichtlich. Der Künstler ist einer der ersten, welcher Druckgrafiken systematisch mit einem Monogramm gekennzeichnet hat. Um zum schön proportionierten Monogramm «AD» zu gelangen, gleicht der Künstler die von seinem Vater gebrauchte Schreibweise «Türer» an die in Nürnberg gültige fränkische Aussprache der harten Konsonanten an und wandelt seinen Namen in «Dürer» um. Daraus entsteht sein Monogramm, das grosse A mit dem untergestellten D. Bei dieser auffälligen Signatur handelt es sich um eine der ersten Urheberangaben. Diese wird wegen der hohen Qualität der künstlerischen Arbeiten bald zu einem Qualitätssiegel und entsprechend kopiert. Obwohl in dieser Zeit Themen wie Geistiges Eigentum und Urheberschutz noch nicht üblich sind, hat der Künstler Kopisten und Fälscher des Markenzeichens strafrechtlich verfolgt – damit ist er ein Pionier auf diesem Gebiet gewesen.
Gesellschaftsgruppen
Gerahmt vom Feuerregen, betritt das «Tier mit den Lammhörnern» wie durch ein Tor den irdischen Schauplatz (siehe Offb. 13,11–18) – ein zähnefletschendes, löwenartiges Wesen. Vor beiden Tieren knien ehrfürchtig Vertreter aller Stände, in zwei gesellschaftliche Gruppen aufgeteilt. Links befindet sich das einfache Volk, rechts, der Bestie am nächsten, die aus Kaufleuten sowie geistlichen und weltlichen Würdenträgern bestehende Oberschicht.
Gottvater
Ein breites, schlangenartiges Wolkenband trennt den irdischen vom himmlischen Bereich. Mit dem Pluviale (hochzeremoniellen Priestergewand) bekleidet, thront Gottvater über dem Geschehen. Er trägt eine Kaiserkrone und hält in der Rechten Hand eine Sichel, die auf den künftigen Feldzug gegen die Geschöpfe Satans vorausdeutet (siehe Offb. 14,14–20). Seine Streiter hat Gott bereits ausgesandt. Zur Rechten Gottes sind ihm zwei Engel anbetend zugewandt – sie verdeutlichen angesichts der Abtrünnigen auf Erden, wem wahrhaft Verehrung gebührt.
Pflanzensymbolik
Am Rand der linken Gruppe ist eine kleine Figur dargestellt, die durch ihre seltsame Kopfbedeckung auffällt. Sie trägt eine Art Helm mit einem krähenden Hahn als Verzierung: «der Hahn steht für die Beredsamkeit eines ‚Volksverführers‘, der den Auftrag des ‚Tiers mit den Lammshörner‘ umsetzen hilft» (Krüger 2002, S. 98). Dürer stellt ihm einen Gegenspieler gegenüber, und zwar den Mann, der am linken Bildrand offenbar gerade herangetreten ist und abwehrend-mahnend die Hände erhoben hat. Diese Gestalt ähnelt der Figur, die im 5. Holzschnitt (Versiegelung der Auserwählten) gerade das Kreuz aus der Hand eines Engels empfängt. Und er ist erneut in der Gruppe der Märtyrer im folgenden 12. Holzschnitt zu sehen – haben doch jene, die sich nicht von dem Meerungeheuer und seinem irdischen Handlanger haben verführen lassen, mit dem Leben gebüsst. Bei der hochgewachsenen Pflanze rechts neben ihm handelt es sich um eine Akalei – sie gilt wegen der ihr zugeschriebenen Heilkraft als Christus- und Mariensymbol. Von ihr wendet sich das Volk ab und dem Verführer zu.
Lady Gaga
Die US-Amerikanische Sängerin Lady Gaga nennt den expressionistischen Film «Metropolis» (1929) von Fritz Lang als eine ihrer wichtigen Inspirationsquellen zum Musikvideo «Alejandro» (2011). Wie im monumentalen Stummfilm von Fritz Lang, zeigt das Musikvideo zahlreiche futuristisch anmutende Szenen, welche von Zerstörung und Versöhnung berichten. Dabei werden die Themenfelder Schmerz, Liebe, Klassenkämpfe und Hoffnung gleichermassen angesprochen, ohne einen präzisen Erzählsprung zu verfolgen. Sowohl Fritz Lang als auch Lady Gaga stehen bezüglich Themen und Bildsprache in einer langen Tradition: Das biblische Bild der Apokalypse wird von Kunstschaffenden seit über 500 Jahren visuell umgesetzt.
Vorbilder
Albrecht Dürer hat sich beim Holzschnitt «Das Tier mit den Lammhörnern» von anderen Künstlern inspirieren lassen. Der deutsche Kunsthistoriker Peter Krüger schreibt dazu: «Die Komposition in der unteren Bildhälfte mit dem siebenköpfigen Tier aus dem Meer auf der rechten Seite und dem von Feuerregen begleiteten Tier mit den Lammshörnern, das auf der linken Seite der Erde entsteigt, hat Dürer aus der Kölner Bibel übernommen, ebenso die Gruppe der den Meerdrachen anbetenden gekrönten Häupter. Unter dem Tier mit den Lammshörnern ist in dem Kölner Holzschnitt eine Erschlagungsszene dargestellt; diese ersetzt Dürer durch eine Gruppe gemeinen Volkes.» (Peter Krüger: Das Tier mit den Lammhörnern, in: Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk Band 2, München u.a. 2002, Kat.-Nr. 123, S. 98). Bemerkenswert ist, dass Dürer sein Vorbild «korrigiert» hat: Im Gegensatz zum Holzschnitt in der Kölner Bibel, gibt der Meister die korrekte Anzahl Kronen wieder, nämlich zehn.
Das soeben unter die Lupe genommene Werk steht hier zum Kauf bereit: