Urinal und Marmorplatten – Vier «Scholar Stones»
Als der russische Avantgardist Kasimir Malewitsch (1878–1935) sein Gemälde «Das schwarze Quadrat» im Jahr 1915 zum ersten Mal präsentiert und Marcel Duchamp (1887–1968) zwei Jahre später mit seinem zur Kunst erklärten Urinal («Fountain») den Begriff «Readymade» prägt, hat in China ebenfalls ein grosser kultureller Umbruch stattgefunden: Fortan sollte Kunst der Politik dienen und als geistige Waffe des Militärs fungieren. Das reichhaltige kulturelle Erbe ist bewusst ausgeblendet worden und damit teilweise bis heute vergessen gegangen.
Erst in den letzten Jahren ist deshalb die Vielfalt der chinesischen Kunst und deren Entwicklung vermehrt in ein globales Bewusstsein zurückgekehrt. Dazu gehören Kunstformen, welche dem avantgardistischen Denken im Westen während des frühen 20. Jahrhunderts erstaunlich gleichen. Eine diesbezüglich besondere Stellung nehmen sogenannte «Scholar Rocks» ein, welche hier angeboten werden: Felsbrocken, die wegen ihrer Form Tieren ähnlich sehen und Marmorplatten, deren Gesteinszeichnung an Gebirgszüge erinnern.
Seit über 1’000 Jahren werden in China natürliche, unveränderte Objekte gesammelt, welche in ihrer Gestalt den Menschen und seine natürliche Umgebung imitieren. Spätestens seitdem der chinesische Dichter Su Shi (1037–1101) den Wert solcher Objekte mit Gemälden gleichgesetzt hat, geniessen die «Scholar Rocks» Kunststatus. Eines der schönsten Beispiele der «Scholars Rocks» sind die dem Westen bis heute nahezu unbekannten «Dali Dreamstones». Es handelt sich dabei um natürliche Marmor-Scheiben, deren Marmorierung an chinesische Tuschemalereien erinnert. «Dali Dreamstones» sind seit mindestens der frühen Tang- Dynastie (618- 907) und während der südlichen Song-Dynastie (1127–1279) geschätzt und betrachtet worden. Ein Teil des jährlichen Tributs des Dali-Königreichs an den Song-Hof ist sogar als Dali-Marmor überreicht worden.
«Dali Dreamstones» sind zudem beim Bau der Verbotenen Stadt (1403–1425) sowie in den Kaiserlichen Ming-Dynastie–Gräbern verwendet worden. Gefunden werden die Steine in der Nähe der historischen Stadt Dali (Yunnan), welche am Fusse des gewaltigen Bergmassiv Cangshan liegt. Dieses Gebirge zeichnet sich aus durch eine aussergewöhnliche, weltweit einzigartige Vielfalt an Marmorablagerungen. Der berühmte Ming-Dynastie-Chronist Xu Xiake (1587–1641) hat geschrieben, dass der Dali-Marmor alle Bilder in den Schatten stellen würde, denn nur diese natürlichen Erscheinungen hätten die Kraft, das wahre Wesen der Natur zu vermitteln. In einem Gedicht schreibt er: «Voller Farbe, exquisit, glitzernd, grossartig, so wunderbar und malerisch, dass kein Gemälde der Welt damit konkurrieren kann. Die grosse Vielfalt an Farben und Mustern stellt das Leben des Menschen und die Schönheit der Natur dar.»
Die traditionelle chinesische Philosophie erachtet Mensch und Natur als egalitäre Bestandteile des Universums. Der Mensch nimmt dabei weder eine zufällige noch eine aussergewöhnliche Rolle ein. Einen Weg, sich dieser Gleichzeitigkeit von Mensch und Natur bewusst zu werden, bieten die «Scholar Rocks». Ähnlich wie westliche «Ready Mades» werden die Gegenstände in ihren ursprünglichen Zuständen belassen. Ohne den «westlichen» Weg von der gegenständlichen über die abstrakte bis hin zur ungegenständlichen Kunst zu nehmen, sollen nach chinesischer Auffassung diese oft gesockelten oder gerahmten natürlichen «Readymades» den Weg zum Formlosen aufzeigen: Mit der ausschliesslichen Konzentration auf einen einzigen Gegenstand soll kontemplative Einsicht in die wahre Natur der Phänomene gewonnen werden. Jede Sinnesaktivität soll bei intensiver Betrachtung eingestellt werden; der Weg führt dabei vom Bereich der Formen – materielle Objekte oder daraus abgeleitete Vorstellungen – zum Formlosen. Zu den Betrachtungsobjekten zählen Vergänglichkeit, Leiden, Unpersönlichkeit und Leerheit. Damit sind wir bei einer chinesischen Lesart von «Ungegenständlichkeit» angelangt. Der künstlerische Akt liegt bei der Beschäftigung mit «Scholar Rocks» vor allem im Erkennen des künstlerischen Potenzials eines natürlichen Gegenstandes, welcher aus seinem ursprünglichen Kontext herausgelöst und durch einen Sockel oder Rahmung (und manchmal einem Titel) semiotisch neu aufgeladen wird.
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Durch ein sich veränderndes Verständnis von Kultur, ist das Interesse an diesen Steinen jedoch ab der späten Qing-Dynastie (1616–1911) verloren gegangen und hat in der Zerstörung vieler solcher Werke während der Kulturrevolution (1966–1976) einen Tiefpunkt erreicht. Nebst einer grundsätzlich ablehnenden Haltung alter Kunstformen gegenüber, hat die Kunstform der «Scholar Rocks» einen besonders schweren Stand gehabt: Nachdem am 1. Januar 1912 die Chinesische Republik ausgerufen worden ist, hat China mit zahlreichen kulturellen Traditionen gebrochen und hat stattdessen viele Eigenheiten des westlichen Kunstbegriffes übernommen. Dabei sind vor allem die Techniken der naturalistisch-realistischen Malerei des 19. Jahrhunderts auf die chinesische Kunst übertragen worden. Überzeugt davon, dass die alte chinesische Kunst aus inhaltlicher Sicht grundsätzlich keinen gesellschaftlichen Nutzen hätte, haben die neuartigen Darstellungsweisen dazu beitragen sollen, Schlüsselthemen des damaligen Militär-Regimes grossflächig und prägnant zu verbreiten. Damit hat Kunst, welche jahrhundertelang vor allem zum individuell-kontemplativen Gebrauch hat dienen sollen, plötzlich den Status eines politischen Instrumentes erhalten. Im Bezug auf unterschiedliche Kunstgattungen sind die Malerei und Skulptur aufgrund ihrer potentiellen naturalistisch-illustrativen Wirkung zu Propagandazwecken erhalten geblieben, andere Kunstformen wie die «Scholar Rocks» sind für unbedeutend erklärt worden. Insbesondere das Wiederentdecken und Verstehen dieser reichhaltigen Kunstform, welche in den letzten Jahren aufgekommen ist, zeigt nun aber, dass westlich geprägte Begriffe wie «Gegenstandslosigkeit» oder «Readymade» in einen neuen Kontext gesetzt werden können.
Chinesische Kunstwerke haben bis in die späte Qing-Dynastie (1616–1911) vor allem Gegenständliches repräsentiert, weshalb die westliche Kunst des frühen 20. Jahrhunderts als progressiver beschrieben werden könnte. Insbesondere deshalb, weil im Abendland bereits ab der frühen Romantik (1795–1830) gelegentlich ein Umbruch in der Darstellung Richtung Abstraktion stattfindet. Dieser Vergleich, welcher sich ausschliesslich visueller Kriterien bedient, ist jedoch einseitig, da die genuine Intention eines Werkes keine Berücksichtigung findet. Damit jedoch Vergleiche zwischen östlicher und westlicher Kunst angestellt werden können, müssen nebst formalen Kriterien auch inhaltliche Charakteristika berücksichtigt werden. Im Folgenden wird ersichtlich, dass bestimmende Eigenschaften der westlichen Avantgarde in chinesischen Werken bereits in der Jin-Dynastie (265- 420) zu finden sind und damit ein Wissen an Aktualität gewinnt, welches im 20. Jahrhundert wegen dem einleitend Beschriebenen fast verloren gegangen ist.
Um diese Tatsache verstehen zu können, bietet sich das Nachvollziehen der westlichen Kunstgeschichte- vom Gegenständlichen zum Ungegenständlichen- an. Ohne den Bezugspunkt zu real existierenden Subjekten oder Objekten aufzugeben, entstehen in der abendländischen Malerei ab dem 19. Jahrhundert vermehrt Werke, welche das visuell Wahrnehmbare abstrahieren und damit dem sinnlich Erfahrbaren den Vorzug geben. Ein wichtiger Vertreter dieser neuartigen Strömung ist William Turner (1775–1851), welcher sich in gewissen Gemälden insbesondere auf atmosphärische Farb- und Helligkeitsabstufungen konzentriert und dabei das Naturalistisch- Gegenständliche auf ein Minimum reduziert. Diese neuartige, die natürliche Umgebung abstrahierende Ausdrucksweise, kann inhaltlich jedoch noch nicht in Verbindung gebracht werden mit dem Aufkommen von ungegenständlicher Kunst. Dies insbesondere deshalb, weil die Intuition, nämlich die Abbildung von visuell Wahrgenommenem, die gleiche bleibt. Im Westen werden spät, erstmals um 1910 Kunstwerke geschaffen, welche nicht mehr das Gesehene und dabei Empfundene abstrahieren, sondern sich eines rein geistigen Gedankenkonstrukts bedienen und dieses in künstlerische Ausdrucksformen tradieren. Auf visueller Ebene manifestiert sich dieser neuartige Zweck von Kunstwerken in deren Gegenstandslosigkeit. «Das Schwarze Quadrat» von Kasimir Malewitsch kann als eines der radikalsten Frühwerke der ungegenständlichen Malerei gesehen werden. Mit dem Ausstellen dieses Gemäldes hat Malewitsch als einer der ersten Maler den Versuch unternommen, «die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien». Laut Malewitsch würde es sich beim Gemälde nicht um «ein leeres Quadrat» handeln, sondern «um die Empfindung der Gegenstandslosigkeit». Damit ist ein Bruch mit den Grundprinzipien der historisch gewachsenen Malerei vollzogen worden, welcher bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Bezug zu real existierender Objekten als universaler und stilunabhängiger Bezugspunkt gesucht hat.
Diese westliche Entwicklung – vom Abbilden zum Egozentrisch-Konzeptuellen – ist in der chinesischen Kunst anachronistisch verlaufen. Bis ans Ende der Qing-Dynastie ist das Schaffen von Kunst, beziehungsweise die Beschäftigung damit, als Zweck der besonderen geistigen Betätigung verstanden worden, welche zum Ziel hat, den einzelnen Menschen seelisch und emotional zu ergreifen und damit das Leben und die Realität zu überwinden. Im Gegensatz zu westlicher Kirchenkunst ist es bei der alten chinesischen Kunst jedoch nicht darum gegangen, durch Kunstwerke einen emotionalen Bezug zum Jenseitigen und Göttlichen zu schaffen, vielmehr haben die Werke dem einzelnen Betrachter dabei helfen sollen, die individuelle Vorstellung von Leben und Realität zu überwinden. Im Zentrum steht nicht das Dargestellte eines Werkes und dessen Interpretation, sondern das Kontemplative, welches ein Kunstwerk auslösen kann. Dieser Ansatz manifestiert sich in der westlichen Kunst ab dem 20. Jahrhundert vor allem in der ungegenständlichen Darstellungsweise.
Im Bezug auf diese Besonderheit chinesischer Kunst hat der Kunstprofessor Zhu Qingsheng den Begriff des «passiven Kunstkonzeptes» geprägt. Laut Qingsheng sei chinesische Kunst nicht nach visuell-formellen entwicklungsbasierten Kriterien zu lesen und sei deshalb grundsätzlich anti-historisch. Dies, weil chinesische Werke über Jahrhunderte «das Wesen der Kunst als über das Leben hinaus weisend und von der Realität losgelöst begreifend – somit auf diese Weise die Grenzen von Zeit und Geschichte überwinden. Dies stellt einerseits eine ganz eigene Methode auf der Suche der Menschheit nach dem höchsten Ideal der Ewigkeit dar. Gleichzeitig kann sich so jeder Mensch über die Alltagswirklichkeit hinwegsetzen und einen Weg der Freiheit finden».
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