20. Dezember 2018

Urinal und Marmorplat­ten – Vier «Scholar Stones»

Als der rus­si­sche Avantgardist Kasimir Malewitsch (1878–1935) sein Gemälde «Das schwar­ze Quadrat» im Jahr 1915 zum ers­ten Mal prä­sen­tiert und Marcel Duchamp (1887–1968) zwei Jahre spä­ter mit sei­nem zur Kunst er­klär­ten Urinal («Fountain») den Begriff «Readymade» prägt, hat in China eben­falls ein gros­ser kul­tu­rel­ler Umbruch statt­ge­fun­den: Fortan soll­te Kunst der Politik die­nen und als geis­ti­ge Waffe des Militärs fun­gie­ren. Das reich­hal­ti­ge kul­tu­rel­le Erbe ist be­wusst aus­ge­blen­det wor­den und da­mit teil­wei­se bis heu­te ver­ges­sen ge­gan­gen.

Erst in den letz­ten Jahren ist des­halb die Vielfalt der chi­ne­si­schen Kunst und de­ren Entwicklung ver­mehrt in ein glo­ba­les Bewusstsein zu­rück­ge­kehrt. Dazu ge­hö­ren Kunstformen, wel­che dem avant­gar­dis­ti­schen Denken im Westen wäh­rend des frü­hen 20. Jahrhunderts er­staun­lich glei­chen. Eine dies­be­züg­lich be­son­de­re Stellung neh­men so­ge­nann­te «Scholar Rocks» ein, wel­che hier an­ge­bo­ten wer­den: Felsbrocken, die we­gen ih­rer Form Tieren ähn­lich se­hen und Marmorplatten, de­ren Gesteinszeichnung an Gebirgszüge er­in­nern.

Scholar Stone

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China, Qing-Dynastie (19. Jh.)

Seit über 1’000 Jahren wer­den in China na­tür­li­che, un­ver­än­der­te Objekte ge­sam­melt, wel­che in ih­rer Gestalt den Menschen und sei­ne na­tür­li­che Umgebung imi­tie­ren. Spätestens seit­dem der chi­ne­si­sche Dichter Su Shi (1037–1101) den Wert sol­cher Objekte mit Gemälden gleich­ge­setzt hat, ge­nies­sen die «Scholar Rocks» Kunststatus. Eines der schöns­ten Beispiele der «Scholars Rocks» sind die dem Westen bis heu­te na­he­zu un­be­kann­ten «Dali Dreamstones». Es han­delt sich da­bei um na­tür­li­che Marmor-Scheiben, de­ren Marmorierung an chi­ne­si­sche Tuschemalereien er­in­nert. «Dali Dreamstones» sind seit min­des­tens der frü­hen Tang- Dynastie (618- 907) und wäh­rend der süd­li­chen Song-Dynastie (1127-1279) ge­schätzt und be­trach­tet wor­den. Ein Teil des jähr­li­chen Tributs des Dali-Königreichs an den Song-Hof ist so­gar als Dali-Marmor über­reicht wor­den.

«Dali Dreamstones» sind zu­dem beim Bau der Verbotenen Stadt (1403-1425) so­wie in den Kaiserlichen Ming-Dynastie–Gräbern ver­wen­det wor­den. Gefunden wer­den die Steine in der Nähe der his­to­ri­schen Stadt Dali (Yunnan), wel­che am Fusse des ge­wal­ti­gen Bergmassiv Cangshan liegt. Dieses Gebirge zeich­net sich aus durch eine aus­ser­ge­wöhn­li­che, welt­weit ein­zig­ar­ti­ge Vielfalt an Marmorablagerungen. Der be­rühm­te Ming-Dynastie-Chronist Xu Xiake (1587–1641) hat ge­schrie­ben, dass der Dali-Marmor alle Bilder in den Schatten stel­len wür­de, denn nur die­se na­tür­li­chen Erscheinungen hät­ten die Kraft, das wah­re Wesen der Natur zu ver­mit­teln. In ei­nem Gedicht schreibt er: «Voller Farbe, ex­qui­sit, glit­zernd, gross­ar­tig, so wun­der­bar und ma­le­risch, dass kein Gemälde der Welt da­mit kon­kur­rie­ren kann. Die gros­se Vielfalt an Farben und Mustern stellt das Leben des Menschen und die Schönheit der Natur dar.»

Die tra­di­tio­nel­le chi­ne­si­sche Philosophie er­ach­tet Mensch und Natur als ega­li­tä­re Bestandteile des Universums. Der Mensch nimmt da­bei we­der eine zu­fäl­li­ge noch eine aus­ser­ge­wöhn­li­che Rolle ein. Einen Weg, sich die­ser Gleichzeitigkeit von Mensch und Natur be­wusst zu wer­den, bie­ten die «Scholar Rocks». Ähnlich wie west­li­che «Ready Mades» wer­den die Gegenstände in ih­ren ur­sprüng­li­chen Zuständen be­las­sen. Ohne den «west­li­chen» Weg von der ge­gen­ständ­li­chen über die abs­trak­te bis hin zur un­ge­gen­ständ­li­chen Kunst zu neh­men, sol­len nach chi­ne­si­scher Auffassung die­se oft ge­so­ckel­ten oder ge­rahm­ten na­tür­li­chen «Readymades» den Weg zum Formlosen auf­zei­gen: Mit der aus­schliess­li­chen Konzentration auf ei­nen ein­zi­gen Gegenstand soll kon­tem­pla­ti­ve Einsicht in die wah­re Natur der Phänomene ge­won­nen wer­den. Jede Sinnesaktivität soll bei in­ten­si­ver Betrachtung ein­ge­stellt wer­den; der Weg führt da­bei vom Bereich der Formen – ma­te­ri­el­le Objekte oder dar­aus ab­ge­lei­te­te Vorstellungen – zum Formlosen. Zu den Betrachtungsobjekten zäh­len Vergänglichkeit, Leiden, Unpersönlichkeit und Leerheit. Damit sind wir bei ei­ner chi­ne­si­schen Lesart von «Ungegenständlichkeit» an­ge­langt. Der künst­le­ri­sche Akt liegt bei der Beschäftigung mit «Scholar Rocks» vor al­lem im Erkennen des künst­le­ri­schen Potenzials ei­nes na­tür­li­chen Gegenstandes, wel­cher aus sei­nem ur­sprüng­li­chen Kontext her­aus­ge­löst und durch ei­nen Sockel oder Rahmung (und manch­mal ei­nem Titel) se­mio­tisch neu auf­ge­la­den wird.

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China, Qing-Dynastie (19. Jh.)

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China, Qing-Dynastie (19. Jh.)

Durch ein sich ver­än­dern­des Verständnis von Kultur, ist das Interesse an die­sen Steinen je­doch ab der spä­ten Qing-Dynastie (1616-1911) ver­lo­ren ge­gan­gen und hat in der Zerstörung vie­ler sol­cher Werke wäh­rend der Kulturrevolution (1966-1976) ei­nen Tiefpunkt er­reicht. Nebst ei­ner grund­sätz­lich ab­leh­nen­den Haltung al­ter Kunstformen ge­gen­über, hat die Kunstform der «Scholar Rocks» ei­nen be­son­ders schwe­ren Stand ge­habt: Nachdem am 1. Januar 1912 die Chinesische Republik aus­ge­ru­fen wor­den ist, hat China mit zahl­rei­chen kul­tu­rel­len Traditionen ge­bro­chen und hat statt­des­sen vie­le Eigenheiten des west­li­chen Kunstbegriffes über­nom­men. Dabei sind vor al­lem die Techniken der na­tu­ra­lis­tisch-rea­lis­ti­schen Malerei des 19. Jahrhunderts auf die chi­ne­si­sche Kunst über­tra­gen wor­den. Überzeugt da­von, dass die alte chi­ne­si­sche Kunst aus in­halt­li­cher Sicht grund­sätz­lich kei­nen ge­sell­schaft­li­chen Nutzen hät­te, ha­ben die neu­ar­ti­gen Darstellungsweisen dazu bei­tra­gen sol­len, Schlüsselthemen des da­ma­li­gen Militär-Regimes gross­flä­chig und prä­gnant zu ver­brei­ten. Damit hat Kunst, wel­che jahr­hun­der­te­lang vor al­lem zum in­di­vi­du­ell-kon­tem­pla­ti­ven Gebrauch hat die­nen sol­len, plötz­lich den Status ei­nes po­li­ti­schen Instrumentes er­hal­ten. Im Bezug auf un­ter­schied­li­che Kunstgattungen sind die Malerei und Skulptur auf­grund ih­rer po­ten­ti­el­len na­tu­ra­lis­tisch-il­lus­tra­ti­ven Wirkung zu Propagandazwecken er­hal­ten ge­blie­ben, an­de­re Kunstformen wie die «Scholar Rocks» sind für un­be­deu­tend er­klärt wor­den. Insbesondere das Wiederentdecken und Verstehen die­ser reich­hal­ti­gen Kunstform, wel­che in den letz­ten Jahren auf­ge­kom­men ist, zeigt nun aber, dass west­lich ge­präg­te Begriffe wie «Gegenstandslosigkeit» oder «Readymade» in ei­nen neu­en Kontext ge­setzt wer­den kön­nen.

Chinesische Kunstwerke ha­ben bis in die spä­te Qing-Dynastie (1616-1911) vor al­lem Gegenständliches re­prä­sen­tiert, wes­halb die west­li­che Kunst des frü­hen 20. Jahrhunderts als pro­gres­si­ver be­schrie­ben wer­den könn­te. Insbesondere des­halb, weil im Abendland be­reits ab der frü­hen Romantik (1795-1830) ge­le­gent­lich ein Umbruch in der Darstellung Richtung Abstraktion statt­fin­det. Dieser Vergleich, wel­cher sich aus­schliess­lich vi­su­el­ler Kriterien be­dient, ist je­doch ein­sei­tig, da die ge­nui­ne Intention ei­nes Werkes kei­ne Berücksichtigung fin­det. Damit je­doch Vergleiche zwi­schen öst­li­cher und west­li­cher Kunst an­ge­stellt wer­den kön­nen, müs­sen nebst for­ma­len Kriterien auch in­halt­li­che Charakteristika be­rück­sich­tigt wer­den. Im Folgenden wird er­sicht­lich, dass be­stim­men­de Eigenschaften der west­li­chen Avantgarde in chi­ne­si­schen Werken be­reits in der Jin-Dynastie (265- 420) zu fin­den sind und da­mit ein Wissen an Aktualität ge­winnt, wel­ches im 20. Jahrhundert we­gen dem ein­lei­tend Beschriebenen fast ver­lo­ren ge­gan­gen ist.

Um die­se Tatsache ver­ste­hen zu kön­nen, bie­tet sich das Nachvollziehen der west­li­chen Kunstgeschichte- vom Gegenständlichen zum Ungegenständlichen- an. Ohne den Bezugspunkt zu real exis­tie­ren­den Subjekten oder Objekten auf­zu­ge­ben, ent­ste­hen in der abend­län­di­schen Malerei ab dem 19. Jahrhundert ver­mehrt Werke, wel­che das vi­su­ell Wahrnehmbare abs­tra­hie­ren und da­mit dem sinn­lich Erfahrbaren den Vorzug ge­ben. Ein wich­ti­ger Vertreter die­ser neu­ar­ti­gen Strömung ist William Turner (1775-1851), wel­cher sich in ge­wis­sen Gemälden ins­be­son­de­re auf at­mo­sphä­ri­sche Farb- und Helligkeitsabstufungen kon­zen­triert und da­bei das Naturalistisch- Gegenständliche auf ein Minimum re­du­ziert. Diese neu­ar­ti­ge, die na­tür­li­che Umgebung abs­tra­hie­ren­de Ausdrucksweise, kann in­halt­lich je­doch noch nicht in Verbindung ge­bracht wer­den mit dem Aufkommen von un­ge­gen­ständ­li­cher Kunst. Dies ins­be­son­de­re des­halb, weil die Intuition, näm­lich die Abbildung von vi­su­ell Wahrgenommenem, die glei­che bleibt. Im Westen wer­den spät, erst­mals um 1910 Kunstwerke ge­schaf­fen, wel­che nicht mehr das Gesehene und da­bei Empfundene abs­tra­hie­ren, son­dern sich ei­nes rein geis­ti­gen Gedankenkonstrukts be­die­nen und die­ses in künst­le­ri­sche Ausdrucksformen tra­die­ren. Auf vi­su­el­ler Ebene ma­ni­fes­tiert sich die­ser neu­ar­ti­ge Zweck von Kunstwerken in de­ren Gegenstandslosigkeit. «Das Schwarze Quadrat» von Kasimir Malewitsch kann als ei­nes der ra­di­kals­ten Frühwerke der un­ge­gen­ständ­li­chen Malerei ge­se­hen wer­den. Mit dem Ausstellen die­ses Gemäldes hat Malewitsch als ei­ner der ers­ten Maler den Versuch un­ter­nom­men, «die Kunst vom Gewicht der Dinge zu be­frei­en». Laut Malewitsch wür­de es sich beim Gemälde nicht um «ein lee­res Quadrat» han­deln, son­dern «um die Empfindung der Gegenstandslosigkeit». Damit ist ein Bruch mit den Grundprinzipien der his­to­risch ge­wach­se­nen Malerei voll­zo­gen wor­den, wel­cher bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ei­nen Bezug zu real exis­tie­ren­der Objekten als uni­ver­sa­ler und stil­un­ab­hän­gi­ger Bezugspunkt ge­sucht hat.

Diese west­li­che Entwicklung – vom Abbilden zum Egozentrisch-Konzeptuellen – ist in der chi­ne­si­schen Kunst ana­chro­nis­tisch ver­lau­fen. Bis ans Ende der Qing-Dynastie ist das Schaffen von Kunst, be­zie­hungs­wei­se die Beschäftigung da­mit, als Zweck der be­son­de­ren geis­ti­gen Betätigung ver­stan­den wor­den, wel­che zum Ziel hat, den ein­zel­nen Menschen see­lisch und emo­tio­nal zu er­grei­fen und da­mit das Leben und die Realität zu über­win­den. Im Gegensatz zu west­li­cher Kirchenkunst ist es bei der al­ten chi­ne­si­schen Kunst je­doch nicht dar­um ge­gan­gen, durch Kunstwerke ei­nen emo­tio­na­len Bezug zum Jenseitigen und Göttlichen zu schaf­fen, viel­mehr ha­ben die Werke dem ein­zel­nen Betrachter da­bei hel­fen sol­len, die in­di­vi­du­el­le Vorstellung von Leben und Realität zu über­win­den. Im Zentrum steht nicht das Dargestellte ei­nes Werkes und des­sen Interpretation, son­dern das Kontemplative, wel­ches ein Kunstwerk aus­lö­sen kann. Dieser Ansatz ma­ni­fes­tiert sich in der west­li­chen Kunst ab dem 20. Jahrhundert vor al­lem in der un­ge­gen­ständ­li­chen Darstellungsweise.

Im Bezug auf die­se Besonderheit chi­ne­si­scher Kunst hat der Kunstprofessor Zhu Qingsheng den Begriff des «pas­si­ven Kunstkonzeptes» ge­prägt. Laut Qingsheng sei chi­ne­si­sche Kunst nicht nach vi­su­ell-for­mel­len ent­wick­lungs­ba­sier­ten Kriterien zu le­sen und sei des­halb grund­sätz­lich anti-his­to­risch. Dies, weil chi­ne­si­sche Werke über Jahrhunderte «das Wesen der Kunst als über das Leben hin­aus wei­send und von der Realität los­ge­löst be­grei­fend – so­mit auf die­se Weise die Grenzen von Zeit und Geschichte über­win­den. Dies stellt ei­ner­seits eine ganz ei­ge­ne Methode auf der Suche der Menschheit nach dem höchs­ten Ideal der Ewigkeit dar. Gleichzeitig kann sich so je­der Mensch über die Alltagswirklichkeit hin­weg­set­zen und ei­nen Weg der Freiheit fin­den».

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