Otto Meyer-Amden: Ein rätselhafter Künstler mit mystischem Werk
An einem schönen Sonntagabend im Winter, am 15. Januar 1933, erreicht die unheilbare Krankheit ihren Höhepunkt: Otto Meyer-Amden verlangt an diesem Tag seinen Freund und Arzt, Max Carl Herzog, an sein Sterbebett und bittet ihn um eine letzte ärztliche Hilfestellung. Am selben Abend erliegt er mit jungen 47 Jahren kampflos seiner Krankheit. Seither ist es still geworden um Otto Meyer-Amden. Bis heute ist sein Werk Wenigen bekannt und sein Leben und Schaffen kaum erforscht. Dabei ist Meyer-Amden eine äusserst eigenständige Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Kunstwelt des 20. Jahrhunderts, die uns bekannte Künstler und deren Arbeiten massgeblich beeinflusst hat. 10 Dinge, die man über sein Leben und sein Werk wissen muss.
➀
Das Blau der Waisenhaus-Uniform
1885 wird Otto Meyer-Amden als jüngstes von sechs Kindern geboren. Seine Mutter verstirbt früh, worauf er mit drei Jahren als Halbwaise von Pflegeeltern aufgezogen wird, bis er von 1893–1900 in die Verantwortung des Burgerlichen Waisenhauses in Bern übergeben wird. Die Erlebnisse und Eindrücke aus dieser Zeit werden den gebürtigen Berner und sein späteres künstlerisches Werk nachhaltigen prägen und viele seiner Motive beherrschen. Die dominierende Farbe blaue, welche sich oft in seinen Werken wiederfindet (z. Bsp. in «Schulklasse» oder «Vorbereitung»), ist beispielsweise von den Schuluniformen entlehnt.
➁
Wegbegleiter des Bauhauses
Nach der Kunstgewerbeschule in Zürich besucht Otto Meyer-Amden die Kunstakademie in München und trifft nach einer ausgiebigen Reise nach Paris im Herbst 1907 in Stuttgart ein, wo er in die Malklasse an der Akademie aufgenommen wird. Dort macht er neben Willi Baumeister (1889–1955) auch Bekanntschaft mit Oskar Schlemmer (1888–1943), mit welchem ihn eine bis zum Tode andauernde Brieffreundschaft verbindet. Die Inhalte dieser Briefe gewähren bedeutende Einblicke in die Entstehungszeit des Bauhauses und werden bis heute von Forschenden rege benutzt. Obschon der Name Otto Meyer-Amden in diesem Zusammenhang kaum Erwähnung findet, wird seine Wirkung aus den Tagebuchblättern Schlemmers und dem gemeinsamen Briefwechsel nachvollziehbar. – Unter anderem geht das von Oskar Schlemmer entwickelte Bauhaus-Signet ursprünglich auf eine Bildidee Meyer-Amdens zurück, was – dies wissend – beim Betrachten einer seiner bekannten Knaben-Akt-Bilder sehr schlüssig erscheint.
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➂
Das zentrale Motiv der Knabenakte
1924 würdigen das Kunsthaus Zürich und die Kunsthalle Basel Meyer-Amdens Werk mit den beiden grössten Ausstellungen, die der Künstler zu Lebzeiten erfährt. Die Ausstellungen zeigen auch einige für sein Werk zentrale Darstellungen von entblössten Knaben, die rasant zu einer Diffamierungskampagne führen. Bekannte Publikumsreaktionen wie diese, zeigen, dass innerhalb des allgemein eher mystischen Werks des Künstlers besonders die Knabenakte Fragen aufwerfen. Betrachtet man die Darstellungen der Jünglinge jedoch in einem ganzheitlichen Kontext, wird klar, dass sich Meyer-Amden in eine lange Tradition einreiht: Der männliche Körper ist ein seit der Antike essenzielles und ein über Jahrhunderte hinweg symbolisch reich aufgeladenes Motiv. Zweifelsfrei ist für Meyer-Amden das Thema des Jünglings eine Obsession, welche sich durch sein künstlerisches Lebenswerk durchzieht. «Eine Obsession – und das ist zentral–, die nicht anders zu bewerten ist als Edgar Degas’ Faszination für Tänzerinnen und Prostituierte oder Pablo Picassos unbändige Begeisterung für den weiblichen – und letztlich eigenen – Körper.» (zit. nach Michael Stettler, «Otto Meyer-Amden», Zürich Buchclub Ex Libris und Edition Rencontre, 1970). Aus einem der unzähligen erhaltenen Briefe Meyer-Amdens an seinen Freund Hermann Huber geht die eindeutige Haltung des Künstlers gegenüber seinen eigenen Knabenakten und gegenüber dem Motiv des Jünglings klar hervor. So erklärt er: «[…] Auch wünsche ich jedem einzelnen Künstler und jeder Epoche, dass sie das ganz natürliche Thema des Jünglings nicht negieren, denn es ist eine der besten Wurzeln».
➃
Der Jüngling als Modell und aus der Fantasie
Die typischen Zeichnungen der Knaben und Jünglinge sind Einzelfiguren, welche sich unterscheiden lassen zwischen Studien nach einem Modell und Figuren, welche der Künstler aus seiner Fantasie heraus gezeichnet hat, wie das hier angebotene Werk. Der Vergleich – insbesondere der Gesichtspartien – macht dies deutlich, sind doch die nach Modell gezeichneten Gesichter spürbar konkreter und folglich realer, wogegen die Fantasiezeichnungen fremd und abstrakt aber auch inhaltsreicher und rätselhafter wirken.
➄
Einfluss Mondrian
Der Kunsthistoriker Andreas Meier weist auf die Parallelen zwischen Otto Meyer-Amden und dem niederländischen Konstruktivsten Piet Mondiran hin: «Otto Meyers künstlerische Vision ist anfänglich stark verbunden mit dem noch im Symbolismus wurzelnden Gedanken einer religiösen Erneuerung durch die Kunst. Seine Suche nach einem neuen Menschenbild stand im Spannungsfeld zwischen Naturalismus und ungegenständlicher Malerei, zwischen Wilhelm Leibl und Piet Mondrian, die für ihn während Jahren leitbildhafte Bezugspunkte gewesen sind. Ohne «Ausseroptisches», das heisst ohne die Absicht einer starken Idee, meinte Otto Meyer-Amden, sei es nicht möglich, zur «Bildform» zu gelangen, die dem «Kosmos und dem Viereck» gerecht werde.» Das «Viereck» bezieht sich vor allem auf den kompositorischen Aspekt, welcher auch bei Mondrian auszumachen ist. Seine anfänglich kubistisch anmutenden «Landschaften» reduziert Mondrian auf horizontale und vertikale Linien, welche mit Primärfarben ausgemalt sind. Dadurch soll ein Gleichgewicht geschaffen werden, die Tiefenwirkung verschwinden, und schliesslich die «reine Realität» bleiben. Genau dieser mathematische und ästhetisch klare «Raumkanon» im Bildviereck, strebte Meyer-Amden ebenfalls an, jedoch stets gegenständlich.
➅
Bewundert von Kirchner, Schlemmer und Thomkins
Nach dem Tod von Otto Meyer-Amden im Jahr 1933 drücken zahlreiche international bekannte Kunstschaffende ihr Beileid aus und kommentierten das Werk des Künstlers. Ernst Ludwig Kirchner schreibt beispielsweise: «Die grosse Liebe zu den Dingen und zur Kunst spricht aus jedem Strich». Oskar Schlemmer wiederum äussert sich zur künstlerischen Haltung Otto Meyer-Amdens: «Er wies mit Eindringlichkeit darauf hin, wie vieles heute aus Übereinkunft geschähe, ohne sich immer der ursprünglichen Gründe bewusst zu sein, die ehedem Antrieb zur künstlerischen Betätigung bildeten.» Otto Meyers Einfluss ist – über Generationen hinweg – auch bei zeitgenössischen Kunstschaffenden erkennbar, unter anderen bei André Thomkins, Rolf Winnewisser und Heiner Kielholz.
➆
Teilnahme an grossen Ausstellungen
Das Schaffen des Künstlers wird unter anderem in der «Exhibition of 20th Century German Art» in London (1938), auf der Documenta in Kassel (1955/1964) oder 1985 in der Ausstellung «100 Jahre Kunst in Deutschland» in Ingelheim gezeigt. Insbesondere die Londoner Ausstellung im Jahr 1938 ist dabei von grosser Bedeutung: Die Schau stellt eine Antwort auf die programmatische Aktion der NS-Kulturpolitik dar, welche im Juli 1937 die Propaganda-Ausstellung «Entartete Kunst» München eröffnet. Mit der Ausstellung «20th Century German Art» soll dem Feldzug gegen die Moderne durch das Nazi-Regime ein Kontrapunkt gesetzt werden – und Arbeiten von Otto Meyer-Amden gehören zu den 300 gezeigten Meisterwerken der modernen deutschen Kunst!
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Das Bergdorf Amden als Lebensmittelpunkt
1902 gründet der Österreicher Josua Klein im St. Galler Bergdorf Amden die Kolonie «Grappenhof» als Spielplatz experimenteller Lebensformen und religiöser Visionen. Dem Visionär folgen zahlreiche Künstler, so unter anderem im Jahr 1903 Hugo Höppner («Fidus»), welcher als eine Ikone der Jugendbewegung gilt und sich einer vegetarischen Lebensweise verschreibt. Obwohl Klein – als Betrüger verschmäht – Amden nach einigen Jahren wieder verlässt, erwacht wenige Jahre später eine neue Künstlerkolonie im Bergdorf. Der Maler Hermann Huber kommt 1911 in nach Amden und holt 1912 Otto Meyer auf den Berg. Weitere Maler wie Albert Pfister, Willi Baumeister, Oskar Schlemmer und Johannes Iten besuchen Amden. Otto Meyer-Amden – er gibt sich den Namenszusatz «-Amden» selbst als Zeichen seiner Verbundenheit mit dem Dorf – weile bis 1928 in Amden und schafft hier seine Hauptwerke.
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Hauptwerk die «Vorbereitung»
Zwischen 1920 und 1930 arbeitet Otto Meyer-Amden an einem seiner bedeutendsten Werkzyklen, der «Vorbereitung». In diesen Kompositionen setzt sich der Künstler mit seinen Erinnerungen an die täglichen Morgenandachten im Waisenhaus von Bern auseinander. Die visuelle Entwicklung der Komposition lässt die Werkgenese besonders eindrückliche nachvollziehen: Die sich in Privatbesitz befindlichen Fassungen aus den frühen 1920er-Jahren dokumentieren insbesondere die Stimmung von Kindern vor dem Essen und vor dem Gebet – einer Stimmung zwischen Nervosität und Ruhe, Andacht und Aufregung, einem Moment von starker Intensität und Spannung. Spätere Darstellungen des gleichen Sujets bestechen aus formaler Sicht, dazu gehört die hier zum Verkauf angebotene Skizze: Der Künstler setzt sich mit der Reduzierung und geometrischen Grundmustern auseinander, wobei der Flächenbegriff Piet Mondrians sicherlich einen Einfluss ausübt. Die mathematisch-regelmässige Platzierung der Knaben deutet Meyer-Amden – besonders eindrücklich zu erkennen in der hier angebotenen Farbstiftzeichnung – mit blauen, kreisrunden Flächen an und die stark reduziert dargestellten Bücher sind als gelbe Flächen rhythmisierend über das ganze Blatt verteilt. Diese Schaffensweise verdeutlicht die Wichtigkeit des Künstlers als Pionier im modernen Schweizer Kunstschaffen. Eine ebenfalls stark vereinfachte, der Zeichnung folgende Fassung, ist im Kunsthaus Aarau aufbewahrt (Aargauer Kunsthaus, Aarau, D366). Oskar Schlemmer schreibt zu den späten «Vorbereitungs»-Werken : «Den äusseren Rahmen bildet der Esssaal des Berner Waisenhauses. Wie im Konvent sitzen die Knaben in wunderbarer Vereinfachung der Körper und Köpfe um das Oval der Tischreihen, in den Händen die zu gelben Strichen reduzierten Bücher.»
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Freundschaftlicher Briefwechsel von wissenschaftlicher Bedeutung
1904 lernen sich Otto Meyer-Amden und Hermann Huber (1888–1967) an der Kunstgewerbeschule in Zürich kennen. Mit Huber pflegte Meyer-Amden in den darauffolgenden zwei Jahrzehnte eine intensive Brieffreundschaft. 1980 überlässt die Familie Hermann Hubers dem SIK-ISEA eine über 360 Briefe umfassende Sammlung – darunter über 300 von Meyer Amden verfasste Briefe an Huber. Die aus dieser Brieffreundschaft hervorgegangenen Schriftstücke sind aus kunsthistorischer Sicht ein einmaliger Glücksfall: Der Briefwechsel dokumentiert nicht nur die Lebensbedingungen der beiden Kunstschaffenden und ihres Umfelds, sondern gibt auch besondere Einblicke in den zu dieser Zeit stattfindenden Austausch über philosophische und ästhetische Themen, sowie über grundlegende Gestaltungsprinzipien die Meyer-Amden seit Studientagen im Austausch mit Oskar Schlemmer entwickelt und mit Huber weiterführt.